Partei mit dem höchsten Muff-Faktor

Die CDU wird 50. Zu Beginn verkündeten die Christdemokraten noch das Ende der unumschränkten Herrschaft des Kapitals, doch seit 45 Jahren gilt die Devise: Keine Experimente  ■ Von Rolf Winter

Es ist Unruhe im Grab des vormaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, immer noch. Unruhe ist auch am Ort der hingeschiedenen Herren Lemmer und Storch, die in ihren bewegteren Zeiten Bundesminister waren. Schließlich ist Unrast in vielen Gottesäckern, wo andere sind, die, als jene sich noch politisch betätigten, die linke CDU repräsentierten, die Arbeiter-CDU, die Partei der kräftig organisierten „christlichen Arbeiterschaft“, die der Erneuerung.

Sie waren wer. Vor 50 Jahren, als es mit der CDU begann, stellten sie den Kern der Partei. 1947, als sich die CDU das „Ahlener Programm“ gab, führten sie die Feder – und wie! „Das kapitalistische Wirtschaftssystem“, formulierten sie wahrheitsgemäß, „ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, und: „Inhalt und Ziel unserer sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein“, sowie: „Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht.“ Und noch einmal und ganz so, als wollten sie den Exitus über jeden Zweifel hinaus diagnostizieren: „Die neue Struktur der deutschen Wirtschaft muß davon ausgehen, daß die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist.“

Die Christdemokraten der frühen Jahre waren Sozis in Schwarz und von den Roten nicht so sehr in der Zielsetzung, sondern nur dadurch unterschieden, daß sie sich auf dem Weg zum Ziel auf die „christliche Soziallehre“ beriefen. Sie waren christliche Sozialisten.

Schon zwei Jahre weiter war es mit ihrer Herrschaft in der neuen Partei vorbei. In einer der raschesten, erstaunlichsten und geräuschlosesten Metamorphosen einer Partei häuteten sich die Christlichen Demokraten und legten die „Düsseldorfer Leitsätze“ an, die Ahlen überholten. In den neuen „Leitsätzen“ war nicht mehr von „Gemeinwirtschaft“ die Rede, sondern von „marktwirtschaftlichen Grundsätzen“, was nichts anderes meinte als: Die eben noch ein bißchen pathetisch dem Kapitalismus die Sterbeurkunde ausgestellt hatten, belebten ihn nun und restaurierten. Schwarzes Rot war nicht mehr chic. Ahlen wurde genannt und die CDU „bürgerlich“. Ab nach rechts.

Nicht, daß man sich von den Herz-Jesu-Sozialisten trennte. Herr Arnold durfte, kalmiert, Nordrhein-Westfalen regieren. Herr Storch durfte, kalmiert und durch die Kabinettsdisziplin eingebunden, Bundesarbeitsminister sein. Herr Lemmer durfte, kalmiert und durch Ressortelles okkupiert, als Bundesminister für das Gesamtdeutsche sorgen. Die anderen Linken durften, kalmiert, Proporzposten in Partei und Verwaltungen besetzen, nur waren sie eben nicht mehr Herren im Haus, sondern Untermieter, wenn auch in kommoden Wohnungen. Hausinhaber aber waren nun der unübersehbar bürgerliche Herr Dr. Adenauer und der liberale Herr Prof. Erhard, und einer war es auch, der im Bonn der frühen Jahre kaum auffiel, doch nach dem gesicherten Wissen des gesamten Bonner Pressekorps mehr Einfluß auf den Kanzler als alle Bundesminister zusammen hatte: Herr Robert Pferdmenges, Bankier und mit den Linken so kompatibel wie Lothar Matthäus mit Trappisten- Mönchen.

Da die Herren für Rückfragen nicht mehr zur Verfügung stehen, weiß man nicht genau, weshalb es in den Grabstätten ehemals christlich Linker rumort, doch liegt die Vermutung nahe, daß die Sache in erster Linie mit dem Sozialprodukt der heutigen CDU zu tun hat, das den verblichenen Linken vorkommen muß wie dem Pater der reulose und wiederholungswillige Sünder, nämlich: Seit 1990 haben die christlich-demokratisch bestimmte Politik und der schamhaft „soziale Marktwirtschaft“ genannte Kapitalismus bei einerseits ständig wechselndem Reichtum täglich 1.150 Arbeitslose produziert, täglich 1.100 Arme, täglich 220 Wohnungs- und Obdachlose und täglich 280 Sozialhilfeempfänger, und zwar auch in Zeiten, in denen christliche Demokraten ermutigend versicherten, man befinde sich in einer wirtschaftlichen Phase des Aufschwungs. Perspektivisch eröffnet diese Tagesproduktion das Bild auf ein Land, das angst und bange macht.

Die dramatische Wandlung, die seit Ahlen mit der CDU vorgegangen ist, wird nicht bloß in diesen Zahlen, sie wird vor allem darin deutlich, daß die Partei mit diesen Zahlen beschwerdefrei zu leben vermag und sich unbeirrbar auf richtigem Kurs wähnt. Das, sozusagen, Sozialste, was man in diesen Tagen ihres 50. Geburtstages von der ehemals linken Arbeiterpartei erwarten darf, ist das Bekenntnis, daß man es bei der Arbeitslosigkeit irgendwie mit einem ernsten Problem zu tun habe, das irgendwann der Lösung bedürfe.

Inzwischen ist die Sache so, daß die Enkel der linken Gründerväter der CDU in der Bedeutungslosigkeit versanken. Den Namen des Vorsitzenden der CDA – ja, die gibt es und ist die Christlich-Demokratische Arbeitnehmer-Organisation – kennt nur noch, wer auch die politische Hierarchie Ecuadors und den kompletten Senat von Umtata aufsagen kann und mit seinem Politikwissen für einen Auftritt beim „Großen Preis“ büffelt. Tatsächlich ist die CDU längst eine Rechtspartei geworden und ihre Behauptung, „die Mitte“ zu sein, so glaubhaft, wie die Versicherung ihres Vorsitzenden es wäre, das nächste Mal am Wolfgangsee ernsthaft ans Abspecken zu gehen.

Da wir gerade bei diesem Herrn sind: Natürlich ist wahr, daß die CDU blieb, was sie in Ermangelung praktisch-programmatischer Substanz stets darstellte, wenn sie in Bonn regierte – eine Kanzlerpartei, die Denken – und vollends Querdenken –, Sorgen, Planungen, Konzeptionelles, Zukunftsgewandtes durch den wuchtigen Auftritt des Bundeskanzlers ersetzt. Herr Biedenkopf, wenn er diesen Status moniert, wird ignoriert oder gedeckelt, Herr Geißler, wenn er mal wieder eine Meinung hat, als Ausweis des Liberalen in der Partei benutzt; von links, wo sich Herr Blüm wähnen mag, sind Einreden längst nicht mehr zu erwarten. Unterhalb des Kanzlers gibt es nichts. Der Ruf aus der Partei, Herr Dr. Kohl möchte doch bitte auch für die nächste Bundestagswahl noch zur Verfügung stehen, drückt nichts anderes als die Einsicht aus, daß die Partei ohne ihn im Adamskostüm antreten müßte. Innerparteiliche Demokratie reduziert sich unter solchen Umständen auf die Freiheit, beim Bundesparteitag zwischen Pils, Kölsch, Weißbier und Mosel zu wählen.

Obwohl von Konkurrenz hart bedrängt, bringt es keine andere politische Partei in Deutschand auf einen auch nur annähernd so hohen Muff-Faktor, was folgerichtig dazu führt, daß sie in dieser unserer real existierenden Gesellschaft stärkste politische Gruppierung sein kann. Daß sie unter jungen Wählern so populär wie der Schnupfen ist, kann eine Partei nicht schrecken, die sich daran gewöhnt hat, politisch von der Hand in den Mund zu leben. Mit diesem Prinzip, wie der Kanzler lehrte, kann man auch epochemachende und wahlsichernde Coups landen: Selbst die deutsche Einheit kam zustande, weil nur einfach rasch in den Mund gesteckt wurde, was plötzlich und unerwartet durch die Güte und den Mut Michail Gorbatschows auf der Hand lag.

Und wo bleibt das Positive?

Zweifelsfrei hat man es bei der CDU mit einer Partei zu tun, die den jeweils bestehenden Status quo besser als irgend jemand anders verwalten kann. Das, nichts anderes, macht sie für jene Millionen brave und anständig etablierte Bürger wählbar, deren Väter es schon mit Großvater Adenauer und seinem notorischen Wahlslogan „Keine Experimente“ hielten. Innovation paßt zur CDU wie das Trapez zu Herrn Dr. Kohl. Solange aber die Furcht vor der Innovation eine deutsche Grundstimmung bleibt – auch und besonders Furcht vor der politischen Innovation zum Zweck der Anpassung der Ökonomie an die Zwänge der Ökologie –, bleibt die CDU in ihrem breiten und konservativen Wählerstamm unangefochten, woraus sich ergibt, daß sie ökologische Innovation denunzieren muß. Ihr Herr Generalsekretär, zuständig für das rhetorisch Grobe, besorgt das in einer Sprache, als wäre er nie ein Pastor gewesen.

Man darf nicht unterschätzen, was die CDU, die vor 50 Jahren das genaue Gegenteil im Sinn hatte, heute mit einem großen Teil der Bevölkerung verbindet: Besitzstandswahrung. Besitzstandswahrung und der schöne soziale Impetus, von dem die Partei 1947 einmal kurzfristig beseelt war, sind unvereinbar. Indem aber die CDU bürgerliche Besitzstände poussiert und wahrt, wahrt sie ihren politischen Besitzstand – die Macht am Rhein und demnächst an der Spree.

Mehr will sie nicht. Mehr hat sie nie gewollt, seit sie ihre Linken vor Jahrzehnten kalmierte und abfand und einband und Christliches nicht mehr links, sondern rechts sah und das große Werk der Restaurierung geschehen ließ. Sie ist eine Verwaltungs-, nicht in dem Sinn eine politische Organisation, daß sie daran dächte, gesellschaftlich zu gestalten, zu reformieren, Zukunft zu arrangieren, Soziales zu sichern, Arbeitslose von der Straße zu holen und Randgruppen zu integrieren. sie ist eine Aussitz- und auch insoweit eine Kanzlerpartei.

„Let's go Deutschland“, proklamierte die CDU, doch wenigstens sprachlich um Jugendlichkeit bemüht, im neuen Idiom des Landes auf Plakaten, als sie 1990 erfolgreich um Wahl bat. Zum 50. mag sie im Festsaal ein Transparent über Kammermusiker, Chrysanthemen und Rednerpult spannen, das aus dem Kern ihres politischen Anliegens zitiert und Herrn Dr. Adenauer auch sprachlich zeitgemäß variiert: „Don't rock the boat“.