Natalja wurde nicht zufällig erschossen

Sergej Kowaljow berichtet auf einer Versammlung der russischen Demokraten über die Verhandlungen von Budjonnowsk / Kompromiß zwischen Jelzin und dem Parlament  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Mit stehenden Ovationen begrüßten etwa 700 Mitglieder der Partei „Wahl Rußland“ am Mittwoch abend den Menschenrechtsaktivisten Sergej Kowaljow im Moskauer „Haus des Kinos“, dessen großer Saal den Schauplatz für viele bereits historische Momente der russischen Demokratiebewegung abgegeben hat. Der Beifall galt auch dem Iswestija-Korrespondenten Valeri Jakow sowie den Deputierten Aelxander Owzowzow und Valeri Balaschow, die in den Tagen des Terrors im Krankenhaus von Budjonnowsk aushielten und sich dann als freiwillige Geiseln zur Verfügung stellten, um den Abzug des Rebellenführers Bassajew zu begleiten.

Noch einmal, diesmal schweigend, erhob sich der Saal, als der deutsche Journalist Gisbert Mrozek vortrat, um von den Umständen der Erschießung seiner Frau, der Journalistin Natalja Aljakina, bei Budjonnowsk zu berichten. Es waren in ihrer überwiegenden Mehrheit einfache Menschen, die hier ihre Betroffenheit zeigten. Billige Sommerfähnchen und fadenscheinige Anzüge der Besucher der Veranstaltung zeigten, daß sie in den letzten Jahren nicht in die Klasse der russischen Neureichen aufgestiegen sind.

Repressalien gegen JournalistInnen bildeten ein zentrales Thema der Diskussion. Sergej Kowaljow mag nicht glauben, daß es sich bei dem Maschinengewehrschuß eines 18jährigen Postens auf Frau Aljakina um reinen Zufall handelte: „In unserer Armee wird eine pressefeindliche Stimmung gezielt geschürt. Ich habe von unseren Soldaten oft zu hören bekommen, daß an den Händen der journalistischen Berichterstatter über Tschetschenien das Blut des russischen Volkes klebe.“

Die russisch-tschetschenischen Verhandlungen bewertete Kowaljow überraschend positiv: „Heute ist eine einzigartige Zeit, in der man endlich auf ein Ende dieses blutigen Gemetzels hoffen und es auch fordern kann.“ Besonders harte Kritik wurde wieder an den vier sogenannten „Macht-Ministern“ laut. Alle Zeugen nannten Beispiele dafür, wie Innenminister Jerin, Geheimdienstchef Stepaschin und der stellvertretende Ministerpräsident Jegorow die Verhandlungen zwischen Kowaljow, Bassajew und Premier Viktor Tschernomyrdin durch gegenläufige Befehle untergruben. Selbst Parteichef Jegor Gaidar legte ein gutes Wort für seinen Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten ein: „Wir müssen sein Verhalten würdigen in dem Bewußtsein, daß auch er keineswegs frei handeln kann.“

Gaidar war es gewesen, der am gleichen Tage einen Kuhhandel der meisten Parlamentsfraktionen mit Präsident Jelzin und Ministerpräsident Tschernomyrdin durchsetzte. Die Abstimmung über die Vertrauensfrage über die Regierung, die Tschernomyrdin gefordert und die Duma für den kommenden Sonnabend auf die Tagesordnung gesetzt hat, soll demnach durch ein Votum über einen zweiten Mißtrauensantrag gegenüber der Regierung ersetzt werden. Diese Lösung erlaubt es zwar nicht den Fraktionen insgesamt, wohl aber vielen einzelnen Deputierten, ihr Gesicht zu wahren. Für die meisten Duma-Abgeordneten gehört heute mehr Mut dazu, der Regierung das Vertrauen auszusprechen als das Mißtrauen. Die Führer der mit 50 Sitzen in der Duma mächtigen Agrar-Partei haben bereits durchblicken lassen, daß sie diesmal nicht gegen das Kabinett stimmen werden. Duma-Vorsitzender Iwan Rybkin: „Nachdem die Fraktionen ihre Unzufriedenheit mit der Arbeit der Regierung zum Ausdruck gebracht haben, wollen sie die Zusammenarbeit zwischen der Exekutive und Legislative nicht völlig zerstören.“ Selbst Präsident Jelzins für die Duma-Mehrheit erniedrigende Erklärung, er denke nicht daran, seine von den Deputierten geforderte Entscheidung über die Absetzung seiner „Macht-Minister“ vor dem 21. Juli bekanntzugeben, konnte den Kompromiß nicht verhindern.

Die Parteien haben aber auch fast keine andere Wahl. Bei einem erneuten Mißtrauensvotum würde Jelzin nach seinen bisherigen Ankündigungen das Parlament auflösen. Für die gegenwärtige Duma bedeutete dies: vorgezogene Parlamentswahlen – im Oktober statt im Dezember. Gerade die aus der Bürgerrechtsbewegung hervorgegangenen Parteien, wie „Wahl Rußlands“, aber auch viele ihrer Gegner können auf die Galgenfrist vor den Wahlen nicht verzichten. Ihre spärliche materielle Ausstattung macht die Deputierten vom technischen Apparat der Duma abhängig.