Ich will für gar nichts kämpfen

taz-Umfrage zum Christopher-Street-Day 1995: Wofür lohnt es sich noch, am Samstag in Neukölln oder am Ku'damm auf die Straße zu gehen?  ■ Text und Fotos: Thomas Enslein

Sa.: 11.00 Uhr Demo: „Willst Du mit mir gehn?“ Treffpunkt: Rathaus Neukölln; 13.00 Uhr Demo: „Flagge zeigen – Farbe bekennen“, Treffpunkt: Savignyplatz; 18.00 Uhr CSD-Fest im Tempodrom. 18.00 Uhr CSD-Party in der Kulturbrauerei; Eberswalder Straße

Sailor Jack (28), „Hundehalter und Schönheitskönigin“: Ich gehe zum Beispiel auf die Straße, um für eine Aids-Politik im Sinne der Betroffenen zu demonstrieren, beispielsweise für ein Lighthouse oder gegen den Abbau der sozialen Leistungen für pflegebedürftige Aids- Kranke. Wichtig ist auch, daß eine Gleichberechtigung in der Gesellschaft gesetzlich verankert wird. Das hätte zumindest einen symbolischen Wert. Ansonsten finde ich diese Zusammenfassung aller Schwulen auf dem CSD ein bißchen eigenartig. Wenn der Schwulenverband Deutschland die Pädos ausschließt, dann aber auf dem CSD die große Einheit propagiert – na, schönen Dank. Aber ich will mich auch gar nicht mit allen Schwulen solidarisch zeigen. Es gibt da wirklich etliche Dumpfbacken, von denen ich auch lieber Abstand nehmen möchte. Die Zeiten der „big familiy“ sind einfach vorbei.

Charlotte von Mahlsdorf (67): Es lohnt sich immer! Es ist natürlich ein schönes Fest, das eine gewisse Tradition hat. Es gibt was Hübsches zu sehen und zu hören. Aber vor allem sollen die anderen zur Kenntnis nehmen, daß wir da sind. Weil wir ja noch immer nicht in allen Dingen die volle Gleichberechtigung haben, obwohl wir Menschen sind wie alle anderen auch. Vor allem bei Behörden, etwa bei der Wohnungsvergabe oder beim Erbrecht, da ist von Gleichberechtigung nicht viel zu spüren. Ob man jetzt homo-, bi-, heterosexuell oder auch gar nicht sexuell ist – im Grunde ist es doch wurscht, wie man's macht. Mein Cousine sagt übrigens immer: „Im Bette, Hauptsache es macht Spaß und staubt nicht.“

Lilo, DOB: Ich finde es nach wie vor wichtig, daß andere Menschen wahrnehmen, daß es eben auch noch andere Lebensformen gibt als ihre. Durch diese Öffentlichkeit sollte das alles ein bißchen mehr zur Normalität werden. Ich lebe auch mit einer Frau zusammen, würde das aber nicht ständig so an die große Glocke hängen. An solchen Tagen wie dem CSD stört es mich aber nicht. Ich oute mich dann in gewisser Weise, weil mich auch Leute hier sehen, die das vorher nicht wußten.

Das einzige, was ich an der Sache nicht so sonderlich gut finde, ist, daß das Ganze so erotisch dargestellt wird. Exotisch darf das ja von mir aus gerne sein. Aber halbnackt über den Ku'damm zu laufen, das ist mir einfach zu sehr auf Sex bezogen. Das ist keine Parade mehr. Das schreckt bloß ab. Wir wollen ja Akzeptanz erreichen. Und wie willst du Behörden ernsthaft erklären, daß Leute, die halbnackt auf der Straße rumlaufen, Kinder adoptieren können sollen?

Ades Zabel (32), Herrenimitatorin: Natürlich lohnt es sich, auf die Straße zu gehen, weil wir ja noch nicht alles erreicht haben, was wir haben wollen. Man darf sich da nicht von der gemütlichen Sondersituation in Berlin täuschen lassen – da eckt man selten an. Aber auf dem platten Land geht's schon ganz anders ab, wenn du als Mann Hand in Hand mit einem anderen durch die Straßen spazierst.

Billy (27), Student: Die Ausgaben für den teuren Fummel müssen ja irgendwie wieder reinkommen, Schätzchen. Ansonsten gehe ich da nur hin, um dusselige Fotoreporter zu schocken. Für meine Rechte kämpfen? Ich will für gar nichts kämpfen. Ist mir zu anstrengend – in meinem Alter ... nee, nee!

Burkhard Gieseler (42), Polizeikommissar: Ist dit jetzt'n Witz? Das dürfte doch jedem, der schwul ist, klar sein, warum er an solchen Tagen auf die Straße gehen soll. Ich denke mal, daß es mehr denn je erforderlich ist. Es muß machtvoll demonstriert werden, daß es Schwule und Lesben in der Stadt gibt und daß sie zahlenmäßig eine bestimmte Größe innerhalb der Gesellschaft haben. In Deutschland geht man von 4% aus. In Berlin beträgt der Anteil 6%. Bei 3,7 Millionen sind das ... Schade, ich hab' keinen Taschenrechner dabei. Zu fordern gibt's mehr als genug.

Wiebke (24), Hotelkauffrau, Veranstaltungen wie der CSD werden eigentlich immer wichtiger, weil sich die Szene immer mehr zersplittert und wir uns ins Private zurückziehen. Daß wir von unseren Zielen noch meilenweit entfernt sind, merke ich selbst daran, wie die Leute mit mir umgehen. Ich arbeite in einem bekannten Café am Ku'damm, wo eigentlich nur heterosexuelle Gäste verkehren. Wenn jemand mitbekommt, daß ich lesbisch bin, werde ich sofort darauf angesprochen. In einer Art und Weise, als wäre das ein Verbrechen. Daß sich jemand dafür interessiert, finde ich ja in Ordnung, aber daß man Lesbischsein als so was Exotisches rausstellen muß, finde ich unfair. Es setzt dich so unter Druck.

Stefan (27), Student: Man muß! Weil es genug dumme Birnen gibt, denen man es zeigen sollte. Man kann zwar in Schöneberg Hand in Hand gehen mit einem Mann. Aber wenn du das in Lichtenberg machst, ist es besser, du hast einen Wasserwerfer dabei. Ich bin selbst gar nicht schwul, aber da war ich vor kurzem in der Arena in Treptow, da bin ich zufälligerweise mit einer Federboa entlanggelaufen, prompt haben mich zwei so blöde Macker auf übelste Weise angemacht. Zum Kotzen. Forderungen? Weiß ich nicht. Die 90er sind eh so unkonkret, das hat nichts mit den Schwulen zu tun – was soll man da groß fordern? Es geht einfach darum, präsent zu sein.

Silvia, keine Angaben „wegen zu schlechter Erfahrung“: Ich habe jetzt dreimal erlebt, daß ich gekündigt wurde, weil ich offen gesagt habe, es ist so, ich bin lesbisch. Du wirst mit fadenscheinigen Begründungen einfach rausgeekelt, wenn denen das nicht paßt. Natürlich habe ich geklagt, einmal sogar gewonnen. Dennoch. Da ist man aufgrund der fristlosen Kündigung erst mal 3 Monate gesperrt. Kein Arbeitslosengeld. Da fällt man in ein Loch. Nach wie vor kann dein beruflicher Werdegang an deiner sexuellen Orientierung scheitern. Das darf einfach nicht sein.

Gunnar H. Döbberthin (32), Chefredakteur des Schwulenmagazins „magnus“: Solange es in vielen Bereichen der Gesellschaft noch keine Gleichberechtigung für uns gibt, finde ich es wichtig, durch massenhaftes Auftreten ein Signal zu setzen. Zum einen um Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Bereichen einzufordern, zum anderen um zur Lobbyarbeit für Lesben und Schwule anzuregen, was in den USA ja schon funktioniert. Keine Partei, kein Unternehmen kann es sich dort noch leisten, öffentlich Schwule und Lesben zu diskriminieren. Wichtig ist beim CSD auch zu zeigen, daß politische Arbeit durchaus mit Spaß verbunden sein kann. Leute sollen sich auch über diesen Tag hinaus engagieren.

Karo (29), Datenerfasserin: Na ja, der CSD ist halt eine der wenigen Möglichkeiten, mal mit solchen Leuten in Kontakt zu kommen. Sonst liest man immer nur dieses oder jenes über sie und denkt – na, schön für sie. Aber man selbst kennt kein Schwein. Also, ganz ehrlich, bei Männern finde ich das noch relativ normal, aber bei Frauen kommt mir das doch etwas komisch vor. Weil, man guckt ja nicht nur hin, sondern denkt ja auch weiter. Es ist einfach alles so ungewohnt. Was ich übrigens nicht so ganz verstehe, ist, daß Schwule und Lesben nicht das ganze Jahr über so offen sind. Und auch mit ihren Akzeptanzproblemen – es kann ihnen doch eigentlich scheißegal sein, was Frau Müller von nebenan dazu sagt.