Und wieder tönt der Ruf nach den Waffen

Intervention ja, aber nicht die der Militärs, sondern die der gesellschaftlichen Kräfte!  ■ Von Ekkehart Krippendorff

Daß es unverantwortlich, ja unmoralisch ist, dem Krieg, dem Morden, den Vertreibungen in Bosnien-Herzegowina tatenlos und nur bedauernd zuzusehen: Wer möchte dem nicht zustimmen? Die Katastrophe dessen, was sich nunmehr schon seit Jahren in unserer unmittelbaren Nachbarschaft abspielt, weist in eine Zukunft, die schlimmer kaum gedacht werden kann – sie hat allenfalls ihre Parallele in den ebenso deutlich vorhersehbaren ökologischen Katastrophen. Wir lassen uns von politischen Klassen regieren, die ihren funktionalen Aufgaben – des diplomatischen Berufes so gut wie der Zügelung kapitalistischer Profitinteressen – nicht gewachsen sind. Die letztere Unfähigkeit zeigte sich angesichts der vertanen Chancen der letzten Klimakonferenz, die erstere von Afrika bis zu Tschetschenien und Bosnien. Und von diesem muß jetzt die Rede sein: hic Rhodus, hic salta.

Wer in Deutschland gegen ein militärisches Eingreifen opponiert, wird aufgefordert, über seinen Schatten zu springen und dem Einsatz der Bundeswehr endlich zuzustimmen: wenigstens zum solidarischen Schutz der Blauhelme unserer „Bündnispartner“. Wir werden unter anderem daran erinnert, daß diese schon 150 Soldaten zum Opfer gebracht haben – warum also nicht auch deutsche Soldaten? Menschenopfer sind der Preis, der zu entrichten ist für denjenigen, der dazugehören, der Mitverantwortung tragen will. Es heißt, die „Glaubwürdigkeit“ unserer Politik stehe auf dem Spiel – und natürlich das zu beendende Leiden der von skrupellosen Bandenführern gegeneinandergehetzten Menschen. Aber wie kann eine deutsche Regierung „Glaubwürdigkeit“ beanspruchen, zu deren Außenpolitik es unter anderem gehört, der zweitgrößte Exporteur von Rüstungsgütern zu sein?

Der Ruf nach den Waffen, der Ruf nach militärischen Interventionen ist die Antwort der großen Vereinfacher von gesellschaftlichen Konflikten. Militärische Lösungen sind die schlechtestmöglichen und immer kontraproduktiv – das wenigstens hat Robert McNamara, der für die Opfer des amerikanischen Krieges in Vietnam zuständige Verteidigungsminister, spät genug erkannt. Wir aber werden nun aufgefordert, auch aus dieser Geschichte zu lernen: „Tornados“ heißt der erste Schritt, dem weitere folgen werden, folgen müssen. Und schon dieser Schritt soll ja dazu dienen, einen Fehler – die erste militärische Intervention – zu korrigieren. Aus diesem Teufelskreis gibt es kein Entrinnen, die Gewaltspirale dreht sich immer weiter. – Aber Einmischung muß sein, weil die Einmischung bereits besteht und immer schon bestanden hat.

Deutschland, Europa, die USA – und natürlich auch Rußland – waren auch in dieser Region immer präsent, hatten Einfluß, haben sich „eingemischt“: ökonomisch, kulturell, diplomatisch. Jugoslawische Gastarbeiter in Deutschland und anderen europäischen Ländern, Kulturaustausch, Wissenschaftsbeziehungen, Handel und Interventionen, all das sind Formen von „Einmischung“. Jetzt ginge es darum, dieses teilweise zerstörte, teilweise aber potentiell noch funktionierende zwischengesellschaftliche Beziehungsgeflecht politisch zu aktivieren. Es ginge um die Rekonstruktion von politischen Verhältnissen und die Unterminierung der Gewaltbeziehungen. Jedwede militärische Aktion steht dazu im Widerspruch, zerstört das Politische.

Es heißt, das Militär sei die „ultima ratio“, das letzte Mittel. Nun denn, fragen wir: Wurde wirklich alles, ALLES getan, um das gesellschaftliche und ökonomische Potential Deutschlands für die Einmischung in Bosnien zu mobilisieren? Tatsächlich ist: Wer sich in Bewegung gesetzt hat, das waren viele Tausende von Individuen und viele Hunderte von Solidaritätsinitiativen, die Gelder sammelten und Hilfsgüter für Kinder und Krankenhäuser in die belagerten und zerstörten Gebiete brachten, die Lager versorgten und den Kontakt zu Friedensgruppen überall in der Region herstellten. Dieser Krieg kann nur von unten überwunden und beendet werden: von denen, die mühsam und unter Risiko von Leben und Freiheit mit Flugblättern und kleinen Zeitungen die Stimme der Vernunft und der Verständigung unter den auseinanderdividierten Bevölkerungen am Leben erhalten, die im Kosovo sich im gewaltfreien Widerstand üben, die in Tuzla eine Solidargemeinschaft über die ethnischen Identitäten hinweg politisch praktizieren, die sich der Einberufung durch die jeweiligen Militärs entziehen, die in Belgrad über Musik und Literatur den organisierten Nationalismus bekämpfen. Hat ein deutscher Außenminister oder Kanzler je ein ermutigendes Wort an die innerbosnischen, innerkroatischen, innerserbischen Kriegsgegner und Oppositionellen gerichtet – geschweige denn ihnen materielle Hilfe zukommen lassen? Wurde je versucht, die arrogante Herrschaft und Kontrolle der Karadžić, Milošević & Co. über ihre eingeschüchterten Untertanen zu unterminieren? Das hieße wirkliche Einmischung, Friedenspolitik, das wäre der Weg, den Krieg an der Wurzel zu bekämpfen. Die „Realpolitik“ hingegen setzt auf Tornados und die „Einsichtsfähigkeit“ der kriminellen Machthaber als Verhandlungspartner. Wer ist hier der wirkliche Realist, wer der Idealist?

Und weiter: Wurde wirklich alles, ALLES getan, um die Kriegsparteien selbst militärisch auszutrocknen? Ist es wirklich völlig unmöglich, ihnen den Ölhahn gänzlich abzudrehen? Hat dieses mächtige Deutschland auf Griechenland und Bulgarien, die wichtigsten Zwischenlieferer, so wenig Einfluß? Oder ist alles nur zu kompliziert – zu teuer? Dann werden deutsche Soldaten mit ihrem Leben dafür einstehen müssen – so wie ihre europäischen Kameraden schon zuvor – daß uns der einfachere Weg auch als der billigere erschien. Wieviel gespartes Geld ist uns das Leben eines Soldaten wert? Andererseits könnte wahrscheinlich schon der Gegenwert von einer Tornado-Flugstunde, investiert in Papier und Maschinen, eine Oppositionszeitung für Monate finanzieren.

Und was würde es uns kosten, ein temporäres Asyl in Deutschland für alle jungen Männer im Wehrdienstalter und alle Fahnenflüchtigen auszurufen? Warum könnte die Bundesregierung nicht alle wissenschaftlichen Vereinigungen dazu aufrufen, ihre Kongresse in Zagreb oder Belgrad abzuhalten und dafür Subventionen zur Verfügung stellen – dies in der Erwartung, daß hierdurch die zivilen Kräfte gestärkt würden? Unsere gemeinsame Phantasie ist aufgefordert, auf allen Ebenen und Kanälen zu intervenieren – nur auf einer Ebene nicht: der militärischen.

Man sage nicht, die überzeugten Kriegsgegner hätten keine Alternativen zur militärischen Intervention anzubieten. Sie haben. Sie werden nur nicht gefragt. Aber die Stimme ihrer Vernunft ist in Deutschland fast zu schwer hörbar, wie die der Kriegsgegner auf dem Balkan.

Der Autor lebt und lehrt in Berlin