Zeven sehen und weiterleben!

■ Gerechtigkeit für Zeven, die Stadt der Superlative! Alles über den Zusammenhang zwischen Fußgängerzonen-Bauen und Nägelkauen/ neue Serie: taz-Heimatkunde (1)

Venedig sehen und dann sterben – das ist keine Kunst. Zeven sehen und weiterleben – das ist ein Programm für Fortgeschrittene. Zeven mit Gewinn verlassen – dafür muß man ein Heiliger sein. Wohlan! Einen Versuch ist es wert.

Immmerhin kennen wir Ostereistedt. Das ist der ständige Wohnsitz des Osterhasen. Jahr für Jahr schicken Tausende von Kindern vor Ostern Briefchen mit Osterwünschen nach Ostereistedt. Zur Belohnung bekommen sie vom Osterhasen einen Brief mit Reklame für die Post AG. Von Ostereistedt sind es tatsächlich nur noch sieben Kilometer bis Zeven. Man kann Zeven allerdings auch von der bekannten Kreisstadt Rotenburg an der Wümme (ROW) aus erreichen. Rotenburg ist bundesweit bekannt, weil das dortige Straßenverkehrsamt Verkehrsschilder herausgibt, auf denen ROW-DY steht. Zeven dagegen ist für nichts bekannt. Das ist ungerecht. Zeven nämlich kann, und das weiß kaum ein Zevener, mit einer ganzen Reihe von Superlativen aufwarten.

Zum Beispiel besitzt Zeven die kleinste Fußgängerzone der Welt. Sie erstreckt sich von der Langen Straße bis zur Lindenstraße und mißt gut 50 Meter. Hier mußte jüngst der einzige Bioladen der Stadt schließen – auch das im Städtevergleich ein Phänomen. Weiter hat Zeven mit einer Fläche von 1000 qm eins der größten Feuerwehrmuseen Deutschlands (Schwerpunkt: Branderziehung, richtiges Absetzen eines Notrufs). Außerdem ist Zeven die für seine Größe (12.000 Einwohner) womöglich an Zentren reichste Kleinstadt der Welt. Zeven hat den Bushof, zur Ferienzeit verwaist; das Kulturzentrum am Christinenhaus mit dem Verzehrkino (“Stirb langsam – jetzt erst recht“), der Waldemar-Otto-Bronze „Großer Hephaistos I“ und der Polizeiwache (Einsatzfahrzeuge der Polizei rammen gern „versehentlich“ den Sockel der Statue); sowie die postmoderne „City Passage“ mitten in einer städtebaulichen Ödnis.

Die City-Passage ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich der Zevener nicht unterkriegen läßt. Rechts in 1a-Citylage ein grasüberwucherter Riesenparkplatz. Gegenüber die blinden Schaufensterscheiben eines seit Menschengedenken leerstehenden Geschäftshauses (ehemals Videothek). In der City-Passage seit Eröffnung erbärmlicher Leerstand (“Idea-Wohnsinn“ hat gerade Räumungsverkauf). Trotzdem sitzen auf der Terrasse des „Snack Time“ (“Selbstbedienung“) immer einige Zevener, die sich über die vorbeiröhrenden Tiertransporter freuen und dem passierenden Schwerlastverkehr aus Bremerhaven den Eindruck von „Leben“ vermitteln.

Der heimliche Mittelpunkt von Zeven ist allerdings die Ladenzeile „Aldi“ Auf der Worth. Hier läßt sich der Besucher beim „Becker“-Imbiß auf einen Kaffee nieder, der im offiziösen lachsroten „Becker“-Pott gereicht wird, während um ihn das Zevener Leben tobt. Beim Einkaufen findet der Zevener zu sich. Die Kinder läßt man in einem Münzhubschrauber zurück. „Viebrocks Backstube“ bietet entweder Baguettestangen oder „original Baguette“ zur Auswahl. „Fleisch Lucka“ (“Hier läuft die Ware nicht vom Band, hier schafft man noch mit Herz und Hand“) verkauft „falsches Kotlett“. Der Begriff stammt aus einer Zeit, als Schweinefleisch noch teurer als Brot war, und bezeichnet die sog. „Bauchlappen“. Bauchlappen werden von Zevener Vätern zum Grillen gebraucht. Zevener Väter zeigen sich in der Öffentlichkeit mit bedruckten T-Shirts: „10 Gründe, warum Bier besser ist als eine Frau.“ Es folgen zehn Gründe. Zevener Mütter sind überwiegend klein und blond und bewegen sich unverkrampft. Man könnte auch sagen: hemmungslos. Große blonde Mütter sind Holländerinnen.

Die Tatsache, daß Zeven in Holland bekannter ist als in Deutschland, verdankt der Ort der holländischen Garnison am Stadtrand. In Holland hat der Name Zeven deshalb einen bedrohlichen Klang. Zeven profitiert insofern von der Garnison, als man im Ort Pindakaas kaufen kann und asiatische Gewürze. Die ortsansässige Gastronomie profitiert ebenfalls, liebt aber das hordenmäßige Auftreten der überraschend langhaarigen Soldaten weniger. Daß derzeit zahlreiche Holländer nach Bosnien abkommandiert sind, sieht man hier mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Holländer sind es auch, die einen bis heute schwelenden Konflikt in die Bevölkerung getragen haben: Zevener streiten sich gern und ausdauernd darüber, ob es holländisch „Zefen“ heißt oder doch lieber „Zewen“. Die prätentiösere Aussprache ist eindeutig „Zefen“, speziell unter Lehrern verbreitet.

An sich aber ist der Zevener unprätentiös. Abgesehen davon, daß sich Zeven ein Geschäft mit Wasserbetten leistet und in seinem Industriegebiet einen Hersteller von Markenkondomen, hat man hier nicht viel zu lachen. Im Rathaus hängt ein kleines Poster, welches das vergebliche Bemühen der Zevener in hervorragender Weise symbolisiert: Es zeigt in munteren Farben eine uralte Vision von der Stadt als einer einzigen, riesigen Fußgängerzone voller küssender Liebespaare und diskutierender Nachbarn. Doch weder Küssende noch Diskutierende werden in Zeven angetroffen, von einer zur Fußgängerzone umgebauten Langen Straße ganz zu schweigen. Die „Straße der architektonischen Stilübungen“ ist im Gegenteil eine vom Verkehr irrwitzig durchtoste Schlucht, gefahrlos überhaupt nicht zu passieren. Mit diesem Leid lebt der Zevener. Er kann das.

Am lustigsten noch ist Zeven im Spiegel seiner Medien. Die Tatsache, daß das Wahrzeichen der Stadt, der Rathausturm, zur Hochsaison eine häßliche Baustelle ist, feiert die Zevener Zeitung mit den herrlichen Worten: „Weil Feuchtigkeit in den mit Rotsteinen verblendeten Spargel– und das darunterliegende Restaurant drang, wurde jetzt die mit einem Gutachten untermauerte Sanierung des Zevener Rathausturms unumgänglich.“ Vergleichbare Sanierungen betreffen die Zevener Fingernägel, über die es an anderer Stelle heißt: „Immer eine Nagellänge voraus“ ist das Nagelstudio SIE & ER, das sich dem Nagelpilz und dem Spaltnagel widmet. Schwerpunkt ist aber die „Naturnagelmaniküre“, zu der „die Kunstnagelverstärkung und die Kunstnagelverlängerung“ gehören.

Entsprechend offen redet man in Zeven über das Nagelkauen und seine psychischen Hintergründe. Der Zevener, dem man seine tiefe, stille Verzweiflung nie anmerkt, kaut an seinen Nägeln statt an seinen Problemen: Was ist Zeven? Bin ich ein Zevener? Warum ich? Warum Zeven? Mit aller Gewalt versucht sie Stadt, einen eigenen Begriff von Heimat herzustellen. Dem Andenken an den „verdienten Heimatforscher“ Hans Müller-Brauel wurde sogar ein spezielles Hans-Müller-Brauel-Zimmer gewidmet, zu finden im Kloster Zeven (1141 nach Zeven verlegt, 1231 kamen die Gebeine des Hl. Vitus nach Zeven). Um den Zevenern und möglichen Gästen die Stadt verständlicher zu machen, scheute man auch nicht davor zurück, Zeven „Stadt am Walde“ zu nennen. Doch selbst die städtischen Prospekte weisen eiligst darauf hin, wofür Zeven in Wahrheit nur gut ist: als „Ausgangspunkt für Fahrten nach Hamburg und Bremen, in die Lüneburger Heide oder zu den Freizeit- und Safariparks in der Nähe.“

Der aufmerksame Besucher von Zeven aber weiß es besser: Das Ziel heißt Zeven! Der Ort, wo Depression und trotziges Überleben so einzigartig harmonieren wie nirgends sonst. Burkhard Straßmann