■ Zur „interfraktionellen Erklärung“ nach Srebrenicas Fall
: Statt Illusionen konkrete Hilfe

Abgeordnete des Deutschen Bundestages, die glauben, durch militärische Intervention das Leben von bosnischen Muslimen schützen zu können, kommen nach der serbischen Eroberung Srebrenicas zu einer wichtigen Erkenntnis: Freimut Duve, Christian Schwarz-Schilling, Marieluise Beck, Hildebrecht Braun und eine Reihe weiterer Abgeordneter stellen in der parteiübergreifenden Erklärung fest: „Wir sehen jetzt, daß es wichtigen Vertretern von UNO und Nato gar nicht um ein wirkungsvolles Instrument zur Rettung der Menschen in Bosnien geht.“ (taz vom 15./16. Juli 1995)

Endlich wird erkannt, daß Karadžić, Milošević & Co dank dem mangelnden Willen und der Unfähigkeit von Regierungen ungestraft ihre Kriegsverbrechen fortsetzen und den Sieg davontragen können. Rußland hat sich nie ernsthaft bemüht, die traditionell und mit ihnen kulturell verbundenen Serben auf eine Politik der Versöhnung und des Friedens mit Bosnien-Herzegowina einzustimmen. In Tschetschenien hat die russische Regierung selbst ein nicht weniger abscheuliches Verbrechen an Hunderttausenden von Zivilisten begangen. Das russische Interesse an Bosnien reduziert sich auf die Instrumentalisierung des Krieges und auch der Menschenleben für die eigene Außenwirtschafts- und Außenpolitik mit der EU und die eigene Sicherheitspolitik mit der Nato. England und Frankreich instrumentalisieren den Bosnienkrieg und die Menschenopfer seit drei Jahren, indem sie alles tun, damit ein antideutsches Serbien als Machtfaktor in Südosteuropa nicht geschwächt wird. Der neue französische Staatspräsident Chirac schreckt sogar nicht davor zurück, das Leid der Flüchtlinge von Srebrenica für eine Ablenkung von der weltweiten Kritik an seinem Atomtestvorhaben zu mißbrauchen, indem er propagandistisch eine militärische Rückeroberung der Moslemenklave ins Spiel bringt.

Und die Bundesregierung? Sie hat konsequent und systematisch den Bosnienkrieg und das menschliche Leid eines Volkes, das wir tagtäglich am Bildschirm miterleben, und die Solidaritätsgefühle mit unseren „Bündnispartnern“, die Blauhelmsoldaten stellen, dazu benutzt, um den Einsatz deutscher Soldaten und der Tornados außerhalb der Nato politisch salonfähig zu machen – wie wir sehen mit großem Erfolg. Während Karadžićs Milizen auf dem Vormarsch sind, um die nächsten Moslemenklaven einzunehmen, Frauen, Kinder und ältere Menschen zu vertreiben, die wehrfähigen Männer einzukerkern und junge Mädchen „nicht ziehen zu lassen“, übt die Bundeswehr den Kriegseinsatz außerhalb der Nato.

Die Beendigung des Bosnienkrieges scheiterte bisher an den kurzfristigen und kurzsichtigen Interessen und an der Großmachtpolitik einiger europäischer Regierungen. Ein ernsthafter Versuch, den Krieg durch wirtschaftlichen und politischen Druck auf Rest-Jugoslawien zu beenden, wurde daher nie unternommen. Ein solcher Versuch hätte angesichts anhaltender ökonomischer Krisen in Serbien und Montenegro und deren vollständiger Abhängigkeit von Öl-/Energieimporten durchaus realistische Erfolgschancen gehabt. Freimut Duve, Marieluise Beck u.a., die selbst in der innenpolitischen Kontroverse um den deutschen Militäreinsatz politische Opfer ihrer eigenen Illusion geworden sind, erkennen zwar am Fall von Srebrenica den Unwillen „wichtiger Vertreter der Nato“, Menschen zu retten, ziehen daraus aber die nicht mehr nachvollziehbare Schlußfolgerung, „daß nur militärischer Schutz die Menschen in Bosnien retten kann“. Noch absurder wird es, wenn sie von denselben unwilligen Instanzen den Einsatz der Schnellen Eingreiftruppe fordern. Wenn die politischen Hauptakteure Europas mit Rücksicht auf ihre gegenseitigen machtpolitischen Interessen nicht einmal dazu bereit sind, sich auf sanftere Methoden der Konfliktregelung einzulassen, dann wird die Vorstellung, daß dieselben Akteure bereit sein werden, die unvergleichbar größeren Risiken eines militärischen Abenteuers mit völlig unklarem Ausgang auf sich zu nehmen, tatsächlich unsinnig. Es sei denn, man unterstellt ihnen ein gehöriges Maß an politischer Naivität oder gar Dummheit.

Die Analyse der Interessengegensätze und das Erkennen der dadurch bedingten Unfähigkeit der europäischen Hauptmächte, tatsächlich das Leiden der Menschen in Bosnien zu beenden, ist eine wichtige und erste Voraussetzung, um die Tornado-Fixiertheit innerhalb und außerhalb des deutschen Parlaments zu überwinden. Kann man wirklich annehmen, daß europäische Hauptakteure jenseits der eigenen machtpolitischen Kalküle perspektivisch zu denken und von sich aus einen Konsens zu finden in der Lage sind, um die Aggression des großserbischen Nationalismus zu stoppen – sei es durch ökonomische oder militärische Aktionen? Wer das glaubt, der verschwendet kostbare Zeit und schürt obendrein weiter gefährliche Illusionen. Gelänge es umgekehrt, diese Illusionen und die unbegründeten Erwartungen an die Regierenden in Europa zu überwinden, dann bestünde für diejenigen, denen es wirklich um die Rettung der Menschen und um das Ende des Bosnienkrieges geht, die Chance, neue politische Bündnispartner für die Mobilisierung eines politischen Drucks von unten in Europa zu gewinnen. Dann ginge es darum, auf Engagement, echter Solidarität und dem Willen von Menschen aufzubauen. Eine Asylkampagne für alle Deserteure des Bosnienkrieges, in der Bundesrepublik mit Hilfe von engagierten ParlamentarierInnen, kirchlichen Initiativen, örtlichen Kirchen- und Menschenrechtsgruppen organisiert und in Österreich, in der Schweiz, in Italien, in Holland Nachahmungseffekte auslösend, könnte die Kriegsbereitschaft im Bosnienkrieg auf allen Seiten empfindlich treffen. Die offene Parteinahme für die Friedensgruppen in Belgrad und deren Unterstützung, die massive Verstärkung der Arbeit europäischer Friedens- und Menschenrechtsgruppen in Ex-Jugoslawien und die Aufforderung der eigenen Regierungen, diesen Prozeß zu unterstützen oder wenigstens nicht zu behindern, baut jedenfalls eher auf einer solideren friedenspolitischen Grundlage auf als die Realpolitik von europäischen Regierungen, die seit drei Jahren Friedenspolitik vortäuschen, in Wahrheit aber die Völker in Bosnien ausbluten lassen; von den ökologischen und sozialen Kosten für die wuchtigen Transall- Maschinen, Tornados und noch vielen anderen Waffensystemen, deren künftige militärische Einsatzpläne für alle Weltregionen in den Schubladen der Rüstungsindustrie liegen, erst gar nicht zu sprechen. Mohssen Massarrat

Der Autor lehrt Sozialwissenschaften an der Uni Osnabrück.

Zur Kontroverse über die Bosnienpolitik der Europäischen Union siehe auch die Artikel von Dunja Melcic und Dzevad Karahasan in der taz vom 12. und 18. Juli.