Rio hat kapituliert

Der Einsatz der Armee in den Armenvierteln hat im Kampf gegen die Gewalt nichts gebracht  ■ Aus Rio Astrid Prange

„Scheitern“ wäre eine wohlmeinende Untertreibung. Sieben Monate nachdem die brasilianische Armee den Auftrag erhielt, das Verbrechen in Rio de Janeiro zu bekämpfen, herrscht peinliches Stillschweigen über die schwache Leistung der Uniformierten.

„Die zweite Phase der Operation Rio existiert nicht“, entfuhr es Rios Oberbürgermeister César Maia in einem Interview mit der örtlichen Tageszeitung Jornal do Brasil. Die sporadische Besetzung von Elendsvierteln mit Panzern und Soldaten reiche nicht aus, die Kontrolle müsse zur regelmäßigen Routine werden.

Seit dem 31. Oktober vergangenen Jahres ist in Rio de Janeiro die Armee für die Verbrechensbekämpfung zuständig. „Die Operation bedeutet für den Staat zusätzliche Ausgaben und könnte in anderen Bundesländern mit ähnlichen Problemen falsche Erwartungen hervorrufen“, heißt es in einer in der vergangenen Woche vom Obersten Rechnungshof (TCU) veröffentlichten Bilanz über den Einsatz des Militärs. Und so empfahl TCU-Vorsitzender Adhemar Ghisi folgerichtig, die militärische Operation in Rio de Janeiro umgehend einzustellen. – Tatsache ist, daß der Einsatz von Panzern gegen Verbrechen und Drogenhandel einfach nichts bringt. Laut offizieller Statistik kommen in Rio de Janeiro auf 100.000 Einwohner 31 Morde, 48 Raubüberfälle, 646 Diebstähle und 144 geklaute Autos. Zum Vergleich: In New York werden pro 100.000 Einwohner 12 Menschen umgebracht, 20 Passanten überfallen, 646 Diebstähle begangen und 756 Autos entwendet.

Die Eskalation der Gewalt, Wahlkampfthema des neuen Gouverneurs Marcello Alencar, fordert täglich neue Opfer. Erst in der vergangenen Woche wurde der Bürgermeister des Rio-Vorortes Belford Roxo ermordert, weil er sich geweigert hatte, einem Straßenjungen seine Goldkette herauszugeben. Drogengangs in Polizeiuniform führen weiterhin „Straßenkontrollen“ durch, und echte Polizisten entführen in ihrer Freizeit die Kinder wohlhabender Unternehmer.

Rios Gouverneur Marcello Alencar gestand kürzlich öffentlich ein, daß die Mehrheit der Polizisten aus der unteren sozialen Schicht stamme, wo Gewalt zur täglichen Routine gehöre. Vor zwei Monaten hatte ein Militärpolizist vor laufenden Fernsehkameras einen 23jährigen Dieb erschossen, der eine Drogerie in einem Einkaufszentrum überfallen hatte – eine Hinrichtung mitten auf der Straße. „Obwohl er entsprechend trainiert wird, kann ein Polizist einmal die Nerven verlieren“, nahm der Gouverneur seine Ordnungshüter in Schutz.

„Wir alle sind verantwortlich für das Klima der Gewalt“, warnt der Erzbischof von Rio, Kardinal Eugenio Sales, während seiner montäglichen Messe für verstorbene Bettler ohne Ausweis. Nach Auskunft des staatlichen Obduktionszentrums werden auf Rios Straßen und Polizeirevieren, in Krankenhäusern und Gefängnissen im Monat etwa 160 Tote ohne Papiere aufgelesen.

Bürgermeister César Maia fühlt sich dennoch nicht unsicher an der Copacabana. „Nicht die Anzahl der Verbrechen ist erschreckend, sondern die Kühnheit der Verbrecher, die ganze Stadtteile ihren ,Gesetzen‘ unterwerfen“, versicherte César Maia in dem Interview mit Jornal do Brasil.

Die mühsame Rückeroberung von Rios rund 300 Armenvierteln, genannt Favelas, durch den Einsatz der Militärs entpuppte sich innerhalb dieses Szenariums als Pyrrhussieg. Denn nach der zeitweisen Besetzung war es nicht die Stadtverwaltung, die die Bedürfnisse der Anwohner erfüllte, zum Beispiel die Bezahlung einer Beerdigung oder den Kauf von Medikamenten, sondern es waren erneut die Drogenhändler.

Auch die Bilanz des brasilianischen Grünen-Politikers Fernando Gabeira fällt vernichtend aus: „Die zunehmende städtische Gewalt ist zu ernst, als daß man sie den Generälen anvertrauen könnte“, sagt Gabeira. Und er klagt: „Zu Beginn wurde die ,Operation Rio‘ von der Bevölkerung unterstützt, weil sie notwendig war. Aber wo, bitte schön, ist ein Projekt, das über Kanonenrohre und Panzer hinausgeht?“