Ein bißchen Dreck schadet nicht

■ Keimfreiheit drinnen, Umweltgift draußen: Die „gute“ Mischung für Allergien?

„Mehr Umweltverschmutzung, mehr allergische Erkrankungen.“ Dieser einfache Zusammenhang wurde bisher kaum ernsthaft in Frage gestellt. Doch es häufen sich die WissenschaftlerInnen, die ausziehen, diesen Zusammenhang zu belegen, und erstaunt das scheinbare Gegenteil finden.

„Je höher der soziale Status, desto höher der Anteil neurodermitiskranker Kinder. In hannoverschen Stadtteilen mit bevorzugter Wohnlage ist jedes vierte Kind NeurodermitikerIn, in den Stadtteilen mit „geringer“ Wohnqualität nur noch höchstens jedes zwanzigste.“ Das ist der überraschendste Befund, den eine Studie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gebracht hat. Untersucht wurde ein ganzer Einschulungsjahrgang auf die Krankheit, die meist schon in den ersten Lebensmonaten oder -jahren ausbricht. Etwa jedes zehnte der 4.219 Kinder war betroffen, bei zwei Dritteln lag eine genetische Veranlagung vor. Zudem stellte sich heraus, daß deutsche Kinder sechsmal häufiger betroffen sind als ausländische und Kinder mit mindestens zwei Geschwistern ein geringeres Erkrankungsrisiko haben.

Diese Daten liegen im Trend neuer Allergiestudien. Drei vergleichende Untersuchungen zwischen den neuen und alten Bundesländern stellte die Zeitschrift bild der wissenschaft vor. Münchner Kinder reagierten demnach doppelt so häufig auf Standardallergene wie Kinder aus den stark schadstoffbelasteten Städten Leipzig und Halle. Je älter die Menschen, desto geringer werden die Unterschiede. Bei Vierzigjährigen hat sich die Allergiehäufigkeit angeglichen.

Ob Allergien im Bundesvergleich oder Neurodermitis in Hannover, die Erklärungsversuche gleichen sich. Alexander Kapp, Professor für Dermatologie an der Hautklinik der MHH: „In Akademikerfamilien rennen Eltern oft zum Arzt, sobald das Kind nur hustet, und der muß es irgendwie behandeln.“ Das Immunsystem solcher Kinder bleibe schwach, weil es sich nicht gegen Infekte zu beweisen brauche.

Entsprechend wird die geringere Anfälligkeit der Kinder in den neuen Bundesländern erklärt: Kinder, die in Krippen aufgewachsen sind und viel draußen spielen, sind gesünder, weil sie mehr Infekte abwehren müssen. Ihr Abwehrsystem ist ausgelastet und kommt nicht in Gefahr, gegen eigentlich harmlose Stoffe wie Hausstaub oder Tierhaare Amok zu laufen.

Beide Krankheiten hängen oft mit einer Überproduktion des körpereigenen Abwehrstoffs Immunglobulin E zusammen, von dem vermutet wird, daß es eigentlich der Parasitenabwehr dient. Mehr Wurmerkrankungen im Osten und in südlichen Ländern könnten der Preis für weitgehende Allergiefreiheit sein. Ob die oft in Streß ausartende Freizeitverplanung für Kinder in „besseren Familien“ eine weitere Erklärung sein könnte, wurde nicht erwähnt.

Als Freibrief für Umweltverschmutzung sind die Daten aber nicht zu gebrauchen. Ostdeutsche Kinder leiden häufiger an Bronchitis, und der Schmutz in der Luft zu DDR-Zeiten war ein anderer als der, der vorrangig zu Allergien beiträgt: Kohlenstaub und Ruß statt Stickoxide und Ozon. Julia Förster