Der ständige Atomkrieg

Explosionen dienen der Machtdemonstration und der Weiterentwicklung von Atomwaffen. Zu beweisen ist: Wir haben die gefährlichsten  ■ Von Jürgen Streich

Kurz vor acht Uhr hatte die schwerbeladene Tupolew 95 „Baer“ am 30. Oktober 1961 in der Nähe des Polarkreises ächzend ihre Einsatzhöhe von 10.500 Metern erreicht. Dann, befreit von 25 Tonnen Last, machte sie einen plötzlichen Satz nach oben. Der Pilot hatte Mühe, die Nase der Maschine nach unten zu drücken. Nur so konnte er genug Geschwindigkeit aufnehmen, um Flugzeug und Besatzung in Sicherheit zu bringen. Denn während dieser Flucht sank an einem 1.600 Quadratmeter großen Fallschirm die stärkste je von Menschen gebaute Bombe mit dem Codenamen RDS auf die russische Nordmeerinsel nieder. In 4.000 Meter Höhe explodierte sie mit der Gewalt von 4.460 Hiroshima- Bomben.

„Die militärische Bedeutung war gleich Null. Eine solche Bombe brauchte man nicht“, kommentierte später General Jewghenij Negin, Anfang der sechziger Jahre Chefkonstrukteur des Kernwaffenprogramms der UdSSR. Tatsächlich hätten die trägen sowjetischen Turbo-Prop-Bomber kaum die westliche Luftverteidigung durchdrungen, Raketen der Roten Armee thermonukleare Monster wie RDS nicht vom Boden wegbekommen können. So war der große Knall von Nowaja Semlja nichts als eine Machtdemonstration, von Nikita Chruschtschow nach dem Abschuß des amerikanischen Spionageflugzeuges U2 und dem Berliner Mauerbau gezielt zum 22. Parteitag der KPdSU inszeniert.

Kernwaffentests hatten immer auch die Funktion, zu zeigen, über welche Mittel ein Land verfügt. Mit einer Ausnahme: Atomkriegsgegner hatten vorgeschlagen, zum Test der ersten Atombombe am 16. Juli 1945 Vertreter des Völkerbundes einzuladen. So hätten die USA ihre militärische Vormachtstellung unterstreichen können, ohne Japan nuklear anzugreifen. Da diese Möglichkeit aber verworfen wurde, war die Einäscherung von Hiroshima und Nagasaki als Hinweis an die Nachkriegsgewalt zu verstehen. Fortan wurden Atomwaffen von den Befürwortern der Abschreckungsdoktrin als „politische Waffen“, deren Einsatz man zwar androhe, dadurch aber verhindern wolle, bezeichnet. Um mit ihnen Politik zu betreiben, in diesem Kräftespiel also auf die eigenen Möglichkeiten hinzuweisen, demonstrierten immer mehr Mächte ihre nukleare Potenz: Nach den Vereinigten Staaten und der UdSSR (erster Test 1949 in Kasachstan) traten Großbritannien (Australien 1952), Frankreich (Algerien 1960) und China (Lop Nor 1964) dem „offiziellen“ Club der Atommächte bei.

Seither wurde auch eine inoffizielle Mitgliederliste geführt. Auf ihr sind die Staaten verzeichnet, die nie verlautbaren ließen, Kernwaffen zu besitzen. Indien beispielsweise zündete 1974 in der Wüste von Rajasthan unterirdisch einen nuklearen Sprengsatz und behauptete, die Explosion habe friedlichen Zwecken gedient. Fünf Jahre später deutete alles darauf hin, daß Südafrika und Israel mit einem gemeinsamen Test ihre atomaren Fähigkeiten demonstrieren wollten. Ausgerechnet als am 22. September 1979 für den amerikanischen – speziell für die Entdeckung von Kernexplosionen gebauten – Vela-Satelliten freie Sicht auf die Prince-Edward-Insel herrschte, gab es dort einen Doppelblitz: typisches Muster für konventionelle Initialzündungen, die nukleare Kettenreaktionen auslösen. Drei Tage später wies der damalige Premierminister Südafrikas darauf hin, daß Gegner der Regime feststellen könnten, „daß wir Waffensysteme haben, von denen sie noch gar nichts wissen“.

Selbstverständlich dienten die Versuche, von denen bis heute weltweit über 2.000 stattgefunden haben, auch der Erprobung und Weiterentwicklung von Atomwaffen. Dabei gingen die Atomkrieger insbesondere zu Beginn des Nuklearzeitalters rücksichtslos gegen Menschen und Natur vor. Paradebeispiel hierfür ist die Explosion der Wasserstoffbombe „Bravo“, der mit 15 Megatonnen stärksten Ladung, die von den USA je gezündet wurde. Wie Hunderttausende Soldaten, die im frühen Kalten Krieg Atompilze vor Augen hatten, sahen die Bewohner der in der Nähe des Bikini-Atolls gelegenen Insel Rongelap die Knochen ihrer Hände wie auf Röntgenbildern. Später litten viele an Schilddrüsenkrebs und Leukämie. Es kam zu sogenannten Quallengeburten: Die Kinder ohne Gesicht und Knochengerüst lebten kaum länger als eine Stunde. Die aus ihrer verseuchten Heimat mehrfach (zuletzt von Greenpeace) umgesiedelten Menschen dienten bei Untersuchungen als Versuchskaninchen. Kaum besser als den Pazifikbewohnern erging es den Menschen, die in der Nähe anderer Atomtestgebiete lebten. So auch den Bürgern des US-Staates Nevada, in dem die Vereinigten Staaten seit 1963 ihre Kernwaffentests durchführten.

Als sich abzeichnete, daß die als Tests verharmlosten Explosionen in Wahrheit einen ständigen Atomkrieg gegen die eigenen Länder darstellten, kam es zunächst zu einer freiwilligen Testpause, die von Herbst 1958 bis zum weltpolitischen Wettersturz infolge des Berliner Mauerbaus 1961 anhielt. Erst als die Welt im Oktober 1962 während der Kubakrise an den Rand des Atomkriegs geriet, kam es knapp ein Jahr später zu einer ersten internationalen Einigung über die Einschränkungen der Kernversuche. Nach über 500 Atomexplosionen (USA 331, UdSSR 185, Großbritannien 23, Frankreich 8) einigten sich die Supermächte und Großbritannien am 5. August 1963 darauf, künftig keine nuklearen Bomben in der Atmosphäre, unter Wasser oder im All mehr zu zünden.

Zunächst fanden im jährlichen Durchschnitt mehr Atomexplosionen statt als zuvor atmosphärische. Und ungeachtet des Teilweisen Teststoppvertrages (TTBT) detonierten seit dessen Abschluß noch mehr als sechzigmal Kernwaffen überirdisch. Frankreich ging 1975 infolge massiver internationaler Proteste mit seinen Sprengungen in den Untergrund, China fünf Jahre später.

Ein umfassendes Teststoppabkommen soll, wie von allen Seiten betont wird, 1996 abgeschlossen werden. Während US-Präsident Bill Clinton kürzlich erklärte, sein Land werde künftig auf jegliche Atomversuche verzichten, gibt es Aufweichungstendenzen. Aus vergleichsweise kleinen nuklearen Explosionen können per Computersimulation Rückschlüsse auf größere Detonationen gezogen werden. Der Weiterentwicklung von Kernwaffen steht also auch ohne massive Umweltverseuchungen wie die, die auf und unter dem Moruroa-Atoll seit Jahrzehnten verursacht und weiter geplant werden, nichts im Wege.