■ Das Entrechten und Verjagen von Minderheiten gehört zu den düstersten Seiten der Geschichte dieses Jahrhunderts
: Völkische Logik

Vor drei Tagen plädierte Eberhard Rondholz an dieser Stelle für „ethnische Trennung“ im ehemaligen Jugoslawien. Der Autor arbeitet als Redakteur im Westdeutschen Rundfunk („Kritisches Tagebuch“). Sein Beitrag war ein gekürzter Vorabdruck aus dem Septemberheft der Blätter für deutsche und internationale Politik, herausgegeben von Günter Gaus, Walter Jens, Claus Leggewie, Friedrich Schorlemmer und anderen. Die Langfassung schmückt sich mit der Vokabel vom „Tabubruch“. Tatsächlich handelt es sich um einen linksliberalen Aufruf zur Beugung des Rechts.

Rondholz begründet das mit „pragmatischen Überlegungen“ darüber, „wie man die Bildung der letzten Nationalstaaten auf dem Balkan durch neue Grenzen etwas weniger unmenschlich machen könnte“. Schließlich dürfe man die „Neuordnung auf dem Balkan“ nicht der dortigen „brutalisierten Soldateska“ überlassen.

Aber es geht um konkrete Kriegsverbrechen, um massive Verletzungen der internationalen Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen. Es geht um Massenmorde und Massaker, die sich jüngst nicht in Knin, sondern in Srebrenica ereigneten. Der Internationale Gerichtshof hat die Anklage gegen Karadžić und Genossen zugelassen und die Beschuldigten zur Festnahme ausgeschrieben – auch wegen des Tatbestands der Vertreibung.

Zwar ließen sich auch Kroaten und Bosniaken in diesem Krieg Übergriffe und Völkerrechtsverletzungen zuschulden kommen, aber sie können mit dem serbischen Terrorismus an keinem Punkt gleichgesetzt werden. Es ist eindeutig, wer die Angreifer und wer die Angegriffenen sind.

Doch Rondholz erfindet die verallgemeinernde Behauptung von der balkanischen Soldateska, weil er sie braucht. Nur so kann er die „ethnische Trennung“ der Menschen als scheinbar gerechte, angeblich verantwortungsethisch legitimierte „Lösung“ begründen. Er muß dazu das einfache Bild jener notorischen Streithammel entwerfen, zwischen denen man die Hand nicht umdrehen und die man daher bestenfalls in getrennte Gatter stecken kann. Die „Volksgruppen und Landsmannschaften Jugoslawiens“ würden, so behauptet unser Schreibtisch-Purifikateur jenseits aller Tatsachen, alle dieselben Ziele verfolgen: nämlich territoriale Erweiterung und ethnische Homogenisierung. Sie alle verfügten über politische Führungen, die Rondholz ernsthaft als gleichermaßen „skrupellos“ bezeichnet – kurz: Izetbegović gleich Karadžić.

Mit dieser rundum verlogenen Situationsbeschreibung ausstaffiert, begibt sich der Autor in die Rolle des „Schlichters“. Er verweist auf historische Beispiele: auf die frühen, oft nur formell freiwilligen Umsiedlungen zwischen Griechenland und Bulgarien, auf den „obligatorischen Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der Türkei, der 1923 im Vertrag von Lausanne unter der Vermittlung des Völkerbundes ausgehandelt worden war. Er unterschlägt die nach Hunderttausenden zählenden Toten genau dieser Vertreibungen, beschreibt sie dann als Erfolgsgeschichte humaner Konfliktregelung und mixt daraus „ein Modell auch für das jugoslawische Inferno“ (Belgrad gleich Sarajevo?). Schließich schlägt er vor, „beim Aushandeln neuer Grenzen“ mitzuhelfen, und die „noch anstehenden Umsiedlungen“ (man beachte den folgenden Komparativ) „unter zivilisierteren Bedingungen stattfinden zu lassen als bisher“.

Genug davon! Das Entrechten, Verjagen und Verschleppen von Minderheiten gehört zu den düstersten Seiten der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Staatlich sanktionierte Austreibung gemäß ständig veränderter Grenzen, „Transfer“ und Deportation ganzer Bevölkerungsgruppen, Minderheiten und sozialer Klassen haben die kulturelle Topographie Europas in der Zeit von 1914 bis 1950 bis zur Unkenntlichkeit verändert und verwüstet. In der Weltkriegsepoche mußten mehr als 40 Millionen Menschen ihre angestammte Heimat zwangsweise für immer aufgeben: Millionen wurden mehr als einmal in gegenläufige Wellen der Austreibung hineingerissen; aus Tätern wurden Opfer und umgekehrt; Millionen kamen während der Flucht oder Verschleppung ums Leben.

Die Politik ethnischer und religiöser Segregation gehorchte sehr unterschiedlichen, auch in unterschiedlichem Maß verwerflichen Motiven. Die Voraussetzungen und Formen der Zwangsmigration – etwa der deutsche „Generalsiedlungsplan Ost“ des Jahren 1941 und der Artikel XIII des Potsdamer Abkommens – sollten nicht einfach gleichgesetzt werden. Aber beide stehen für eine Politik, die den einzelen Menschen nicht als Individum schützte, sondern zum Partikel völkischer Kollektive machte.

Wie sich in der Gegenwart an allen Ecken Europas zeigt, kann von einem Erfolg dieser durch und durch illegitimen Form staatlicher Machtausübung keine Rede sein. Allenfalls davon, daß Demokratie in differenzierten Gesellschaften weit eher gedeiht als in homogenen. Ebendarin besteht eines der Probleme postkommunistischer Staaten.

Bleibt die Frage nach dem Recht. „Ethnische Säuberungen“ sind heute völkerrechtlich unmißverständlich verboten. Das war in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts weniger eindeutig. Damals hob die herrschende Lehre weit mehr als heute auf die Souveränität des Staates ab. Subjekte des Völkerrechts konnten nur Staaten sein, nicht Individuen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 hat diese Rechtssituation nachhaltig verändert. Dasselbe gilt für die weitgefaßte UN-Konvention zur Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung (1965) und den Internationalen Pakt über die zivilen und politischen Rechte (1965).

Das internationale Recht verbietet die Zwangsumsiedlung heute definitiv. Sie kann daher weder Bestandteil von Waffenstillstandsvereinbarungen im früheren Jugoslawien noch von Friedensverträgen sein. Vielmehr müssen alle an der Schlichtung des Konflikts beteiligten internationalen Organisationen darauf beharren, daß die schon vollzogenen Vertreibungen rückgängig gemacht werden können und die Grundrechte des einzelnen Menschen geschützt werden. Das ist möglich: Immerhin wurde die 1939 zwischen Deutschland und Italien vereinbarte Zwangsumsiedlung der Südtiroler 1946 annulliert, von 80.000 Ausgesiedelten kehrten mehr als die Hälfte zurück. Götz Aly