„Es ist die größte Schande unserer Zeit“

■ In Bonn wurden minutiöse Berichte über den Völkermord in Bosnien vorgelegt

Bonn (taz) – Der menschlichen Grausamkeit sind keine Grenzen gesetzt. Der Krieg im früheren Jugoslawien liefert seit drei Jahren die Beweise frei Haus, Tag für Tag. Der Völkermord geschieht mitten in Europa. Aber die Bilder des Schreckens, der Verzweiflung, der Zerstörung und der Angst sind allzuoft nur flüchtige Momentaufnahmen aus einer fremden Welt.

Dem Vergessen entgegenzuwirken und den Völkermord in Bosnien zu dokumentieren war das Ziel eines Kongresses der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ (GfbV), des „Instituts zur Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Völkerrecht“ in Sarajevo und einer Menschenrechtsgruppe aus Malaysia. Mehr als 100 Rechtsexperten, Soziologen, Islamwissenschaftler, Generäle, Religionswissenschaftler, Augenzeugen und Politiker tagten vom 31. August bis zum 4. September in Bonn. Die Schirmherrschaft von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, des „Nazi- Jägers“ Simon Wiesenthal und des Kommandanten des Warschauer Ghettos, Marek Edelmann, sollten der Konferenz öffentliche Aufmerksamkeit garantieren.

Über vier Tage hörten die Konferenzteilnehmer im Viertelstundentakt die Vorträge der Experten, von völkerrechtlichen Aspekten bis hin zu sozialpsychologischen Erklärungsversuchen des Völkermords in Bosnien. Die Dokumentation des Verbrechens sollte umfassend und unumstößlich sein. Stephan Müller vom Boltzmann-Institut in Wien legte eine Studie über die Vertreibungen aus der nordostbosnischen Stadt Zvornik vor. Die Rekonstruktion des Geschehens beruht auf mehreren hundert Interviews, die der Wissenschaftler und Studenten in mehrmonatiger Arbeit zusammengetragen hatten.

Aufmerksamkeit erregte auch eine Studie aus der Geheimdienstschublade. Der amerikanische Journalist und Pulitzer-Preisträger Roy Gutman stellte einen CIA- Bericht vor, in dem es wörtlich heißt: „Die offensichtlich systematischen und verbreiteten Aktionen der bosnischen Serben zur Vertreibung der Zivilbevölkerung seit Beginn des Konflikts erhärten den Verdacht, daß die politischen und militärischen Führer der bosnischen Serben eine zentrale Rolle bei der Vernichtung und Vertreibung der nichtserbischen Bevölkerung Bosniens gespielt haben.“

Ein Völkermord auf Befehl also. Mit brutalsten Foltermethoden, wie Muhammed Basić vom Außenministerium in Sarajevo erläuterte. Seine Beispiele nannte er ausdrücklich unvollständig. Den Menschen werden die Augen ausgestochen und Fußnägel herausgerissen; Gliedmaßen werden abgehackt und Mitgefangene gezwungen, diese zu essen. Ganze Familien werden in ihren Häusern eingesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt; Venen und Adern aufgeschlitzt, bis der Tod durch Verbluten eintritt. Mit Messern und Mistgabeln werden Kinder mißhandelt oder vor den Augen ihrer Eltern abgeschlachtet. Eltern werden gezwungen, das Blut ihrer Kinder zu trinken. Junge Mädchen und Frauen werden vergewaltigt, mit Messern und Gewehrkolben, und anschließend ermordet.

„Es gibt nicht dasselbe Muster von Grausamkeiten auf beiden Seiten“, sagt Tilman Zülch, der Vorsitzende der GfbV. Die Wahrheit liege nicht in der Mitte. Die serbische Aggression sei die einzige Ursache des Völkermords, die Vernichtung des bosnischen Volkes sei das Ziel. Der Kongreß verurteilte denn auch in einer „Bonner Erklärung“ die „Völkermordverbrechen durch serbische Angriffstruppen“.

Besonders schwere Beschuldigungen erhob der Kongreß gegen die internationale Gemeinschaft. Smail Cekić aus Sarajevo nannte ihr Verhalten gegenüber Bosnien „die größte Schande unserer Zeit“. Das Waffenembargo habe einen „genozidalen Charakter“ und müsse deshalb sofort aufgehoben werden. Der Ex-Außenminister Kroatiens, Zvonimir Separović, verlangte im Namen des Kongresses, UN-Generalsekretär Boutros Ghali, die früheren EU-Vermittler David Owen und Thorwald Stoltenberg sowie den UN-Sonderbeauftragten Yasushi Akashi „wegen Beihilfe und Begünstigung des Völkermords“ vor das Internationale Tribunal in Den Haag zu bringen. Georg Baltissen