Das nachdenkliche Kaffeekränzchen

Ein Pariser Philosophiedozent versucht die Tradition des guten Kaffeehausgesprächs wiederzubeleben  ■ Von Sandra Weiss

Das „Café de Flore“, das „Deux Magots“ und das „La Rotonde“ – Kaffeehäuser mit Stil und Geschichte im Pariser Studentenviertel Quartier Latin. Dort diskutierten, tranken, rauchten und schrieben sie: Hemingway, Sartre und Camus. Tage- und nächtelang. In den siebziger Jahren kamen die geistreichen Plauderstunden aus der Mode, und die berühmten Literaturcafés wurden zum Edeltreffpunkt der Jeunesse dorée. Und der Touristen. Die Literaturpilger schlürfen hier im Andenken an die großen Meister Kaffee für acht Mark und schreiben. Nicht Romane, dafür Ansichtskarten. Seit kurzem möchten Philosophen und Literaten an vergangene Zeiten anknüpfen und die alte philosophische Tradition wieder aufleben lassen.

Sonntag morgen, 11 Uhr, im „Café des Phares“ an der Bastille. Kein Stuhl ist mehr frei. Sogar an der Bar und an der Toilettentür lehnen Männer und Frauen, die Luft ist zigarettenverqualmt. Durch die verglaste Veranda scheint blaß die Novembersonne. Im Café hat das Brainstorming auf der Suche nach Themen begonnen. Spontan recken einige Gäste ihre Arme, um ein schnurloses Mikrophon zu ergattern: Sie haben einen Geistesblitz für die philosophische Matinée. „Kann der Mensch dem Menschen nützlich sein?“ schlägt einer vor; „Wie kann man heutzutage die Zeit leben“, ruft ein zweiter. „Sind wir etwas anderes als nur Studenten?“ möchte ein Dreißigjähriger mit schütterem Haar und Vollbart wissen, und ob der „Chic noch in“ sei, ergeht sich ein älterer Herr in Wortspielen.

Marc Sautet, Philosophiedozent und Animateur der Matinée, krempelt die Ärmel seines Jeanshemdes hoch, setzt sich auf die Stuhllehne, in der Rechten das Mikro, in der Linken den Espresso, und greift in die Debatte ein. Er fände das Sujet „äußeres Auge, inneres Auge“ interessant, entspreche es doch einer traditionellen religiösen Fragestellung, die zwischen dem Blick Gottes und dem Bewußtsein der eigenen Existenz eine Analogie herstelle. Das müsse man aber spezifizieren; ginge es um die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Geist oder um die jüdisch-christliche Tradition des dritten Auges?, versucht eine Frau des Themas Frau zu werden. Stimmengewirr erfüllt das Café mit den vielen Spiegeln und den bunten Säulen. Kugelschreiber werden gezückt und Hefte aufgeschlagen. Marc Sautet versucht verzweifelt, im Chaos den Überblick zu behalten und die Wortmeldungen in eine Reihenfolge zu bringen. Der Garçon mit dem Zöpfchen balanciert mühsam ein Tablett durch die dichte Menschentraube.

„Auch im Islam gibt es die Tradition des bösen Blicks, vor dem man sich mit Fatimas Hand schützt, und der Hinduismus kennt das dritte Auge Shivas“, gibt einer mit Denkerstirn und Nickelbrille zu bedenken. „Man kann sich selbst durch den Blick der anderen sehen“, zitiert eine elegante Dame im schwarzen Minikostüm Jean- Paul Sartre. Mit einem Mal fühlt man sich in die fünfziger Jahre versetzt, als Sartre und seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir bei mehreren Kännchen Café au lait existentialistische Ideen ausheckten. Lautes Gelächter, als draußen ein Touristenbus hält, auf dem in roten Lettern „Paris-Vision“ prangt. „Es gibt keinen Zufall“, scherzt Marc Sautet.

Zwei Stunden und fünf Espresso später sitzt er erschöpft an einem Bistro-Tisch auf der Veranda. Kleine Gruppen reden sich an den umliegenden 15 Tischen weiter die Köpfe heiß. An einer Säule klebt ein Plakat mit Werbung für die neueste Monatsausgabe des lettre du cabinet de philosophie zum Thema „Kann man der Zweideutigkeit entrinnen?“ Das achtseitige Heftchen ist zu 18 Francs im Café erhältlich.

Sein Ziel sei es, die Philosophie aus den „geheiligten Hallen“ der Universitäten herauszuholen und wieder zur Sache aller zu machen, betont Marc. Damit möchte er an eine alte griechische Tradition anknüpfen, wie auch der Titel seines ersten Buches „Ein Café für Sokrates“ verrät. Die Sonntagsmatinées sind kostenlos, für jeden zugänglich, und so ist auch das Publikum bunt gemischt: Studenten, Soldaten, Arbeiter, Professoren, Rentner, Journalisten und Hausfrauen.

Was bringt sie für Marc? Einsamkeit, persönliche Probleme, intellektuelles Interesse, Wichtigtuerei. „Zukunftsängste und der Wunsch, gemeinsam nachzudenken“, meint der Meister. Das Charisma des wortgewandten Kevin Kostner aus dem Großstadtcafé spielt sicher auch eine Rolle.

Hauptproblem der Animation sei, die verschiedenen Menschen dazu zu bringen, daß sie einander zuhören und aufeinander eingehen, so Marc. Bei den Diskussionen muß er zwischen zwei Extremen vermitteln. Zum einen sind da die Intellektuellen, die ständig das Wort an sich reißen mit dem Argument, sie hätten ja schließlich alle Philosophen gelesen, und zum anderen gibt es die „Psychotypen“, die jeden Satz mit „Aber mir geht das so ...“ beginnen. Der Drahtseilakt scheint Marc zu gelingen, denn seit dem Entstehen des Philosophencafés im Juli 1992 ist die Anhängerschar des Philosophie-Gurus schon von zehn auf fast achtzig Personen gewachsen.