Meister der Diskretion, Meister der Phrasen

■ Der Ex-Dauerminister Hans-Dietrich Genscher hat 900 Seiten „Erinnerungen“ geschrieben und das Kunststück fertiggebracht, in diesen nichts zu sagen

Der Meister der Sprechblase hat zugeschlagen. Diesmal mit einem kiloschweren Buch. Hans- Dietrich Genscher, schon immer berühmt, weil er es wie kein anderer Nachkriegspolitiker verstand, zehn Minuten zu reden, ohne etwas zu sagen, ist sich treu geblieben. 900 Seiten „Erinnerungen“ hat er geschrieben, und nur mit Mühe finden sich Stellen, in denen es etwas zu erfahren gibt.

Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der bei der Buchpräsentation vor einigen Tagen in Berlin die Laudatio hielt, gelang in diesem Sinne ein Euphemismus, der sowohl Einsicht als auch Ironie verrät. Genscher, so Weizsäcker, sei einer der wenigen Politiker, der das „Grundrecht auf Diskretion“ pflegt. Wohl wahr. 23 Jahre Dauerministerbilanz und keine Pointe, kein böses Wort, keine Enthüllung und fast keine neuen Erkenntnisse! Hilflos bleibt der Leser auf lauter Fragen sitzen.

Warum tritt der dienstälteste Außenminister des westlichen Bündnisses nach 18 Jahren Amtszeit zurück? Damals im April 1992, gab Genscher dazu nur taktische Erklärungen ab und jetzt drei Jahre danach in seinem dicken Buch, noch immer nichts Substantielles. Ein ganzes Kapitel widmet er seinem spektakulären Rücktrittsgesuch, ein ganzes Kapitel, ohne etwas zu erhellen. Keine Zeile, ob er sich nach so vielen Jahren Außenpolitik unter den Bedingungen der Blockkonfrontation vielleicht überfordert fühlte. Kein Nachdenken, daß Weltpolitik nach dem Mauerfall vielleicht anderen Maßstäben zu gehorchen hatte, eine andere Politik erforderte. Wer bitte, hätte es dem Mann übelgenommen, wenn er geschrieben hätte, daß er sich vielleicht auf die neue Zeit nicht mehr hatte umstellen können. Nichts, nichts, nichts. Hans-Dietrich Genscher bleibt so „diskret“, wie er immer war. Er beschreibt langatmig einen Vorgang, aber erklärt nichts.

Die Nebelwerferei gilt nicht nur für seinen Rücktritt, sondern im gleichen Maße für die vielen brisanten politischen Entscheidungen, an denen er beteiligt war. Die Debatte um den Nato-Doppelbeschluß, die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und nicht zuletzt die deutsche und westeuropäische Politik im Jugoslawien-Konflikt. Es ist oft gemutmaßt worden, daß Genschers Rücktritt eine Konsequenz des Desasters der europäischen Politik in Jugoslawien gewesen sei, ein unausgesprochenes Eingeständnis des eigenen Versagens zu einer Zeit, in der Deutschland erstmals wieder seit 1945 souveräne Außenpolitik gestalten konnte.

Immerhin, Genscher tritt diesen Mutmaßungen entschieden entgegen. Aber leider nicht, indem er explizit darauf eingeht, sich mit dieser Kritik auseinandersetzt, erklärt, sondern mit einer Flucht nach vorne, genauso so, als ob er immer noch Außenminister wäre. Und diese verteidigen müßte.

Sein Jugoslawien-Kapitel ist reine Apologie: Die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens zu dem Zeitpunkt, zu dem die Bundesregierung sie ausgesprochen hatte, war richtig – die Entscheidung kein deutscher Alleingang, sondern Ausdruck breiter Übereinstimmung innerhalb der Europäischen Union. Auch die KSZE, das heißt die USA und UdSSR, seien einverstanden gewesen. Wieder, und in diesem Fall ist es besonders enttäuschend, läßt Genscher in all seinen vielen Worten jede politische Reflexion vermissen und bemüht statt dessen nur gründlich seinen Terminkalender.

Nur wer genauestens informiert werden will, wann welche Ministerratstagung, welches Außenministertreffen, welche Verhandlungsrunde und so fort stattfand und wann welche Presseerklärung abgegeben wurde, ist mit diesem Buch bestens bedient. Keine Probleme hatte Genscher offensichtlich mit der Erklärung der EU, die eine Anerkennung lediglich in Aussicht stellte, während er sie betrieb. Und auch der Ausschuß hoher Beamter der damaligen KSZE hat zweifellos die von Genscher zitierte Erklärung abgegeben, in der das Selbstbestimmungsrecht der Völker Jugoslawiens erwähnt wird. Aber ist das ein Beweis dafür, daß auch die KSZE die staatliche Anerkennung zu diesem Zeitpunkt wollte?

Man könnte versuchen, Genscher empirisch zu widerlegen, und alle Erklärungen aus den Archiven fummeln, in denen der internationale Dissens zur Anerkennung Kroatiens durch Deutschlands formuliert wird.

Deutlich würde dann werden, daß die Haltung Westeuropas zum Balkankrieg bereits in seiner Frühphase so unterschiedlich, ja teilweise so gegensätzlich war, wie es heute noch ist. Aber auch dann wäre die entscheidende Frage, die der damals verantwortliche Außenminister zu beantworten hätte, nicht beantwortet: War die Balkanpolitik Deutschlands, der Europäischen Union und der KSZE so völlig abgestimmt, wie Genscher behauptet? Und wenn dem so wäre, ist man mit dem Ergebnis zufrieden? Und wenn – was näherliegt – nicht, weshalb denn nicht? Gab es institutionelle Fehler oder Fehleinschätzungen?

Das würde man doch zu gerne wissen, wenn man sich schon die Mühe macht, die fast tausend Seiten durchzubaggern. Statt „Erinnerungen“, wirklich, Hunderte von Kommuniqués, die jeder im Pressearchiv des Auswärtigen Amtes hätte selbst kopieren können.

Dieses Buch ist wirklich ein Jammer. Denn gerade weil Genscher Phrasen so liebte, neigte man früher schnell dazu, ihn zu unterschätzen. Schade, daß er mit seinen „Erinnerungen“ noch einmal nachhaltig sein Image als Phrasendrescher bestätigt, statt sich endlich als Außenpolitiker zu outen. Jürgen Gottschlich

Hans-Dietrich Genscher „Erinnerungen“. Siedler Vlg. Berlin 1995, 900 S., geb. 68 DM