„Ist Treue in Mode, geht die Zukunftsangst um“

■ Björn Wallsjö, Familientherapeut im schwedischen Göteborg, über Liebe und Sicherheit

taz: Ein amerikanischer Familienforscher hat Schweden mal als „Labor menschlichen Zusammenlebens“ bezeichnet. Was hat das Labor zum Thema „Rückkehr ins Zeitalter der Treue“ zu melden?

Wallsjö: Der Begriff vom Labor bezog sich auf die in Schweden bestehende Freiheit, alle Formen des Zusammenlebens auszuprobieren. Was die äußere Form angeht: Die Zahl der Eheschließungen ist auf einen Tiefpunkt gesunken. Die Form ist aber nicht das wichtigste, sondern der Inhalt: Und da hat es tatsächlich den Anschein, als ob die Forderung nach Treue wieder eine größere Rolle spielte.

Hat das mit Aids-Angst zu tun?

Nein, so einfach ist das nicht. Die Forderung nach Treue kommt ja aus dem Spannungsverhältnis zwischen Liebe und Selbstverwirklichung. Unsere „moderne“ Vorstellung von Selbstverwirklichung kollidiert mit der romantischen Liebesauffassung. Liebe will alles. Selbstverwirklichung aber auch.

Wie erklärt sich die mal stärkere, mal schwächere Forderung nach sexueller Treue etwa in verschiedenen Generationen von Jugendlichen?

Das hängt unter anderem vom Grad innerer Sicherheit ab. Wenn man ein relativ hohes Maß an innerer Sicherheit hat, dann sinkt das Bedürfnis, einen anderen besitzen zu müssen, ihn bestimmen zu wollen, ständig seiner Treue versichert zu sein. Liebe ist ja gerade nicht- besitzend, nichtkontrollierend. Und doch sind es nur Augenblicke, Phasen, in denen wir nicht gegen die Liebe sündigen.

So großzügig man auch sein will, Untreue, bei der man keinen Schmerz empfindet, dürfte es kaum geben ...

Es fließen nun mal alle möglichen Komponenten ein: biologische, kulturelle, soziale und auch erbliche. Und dann kommen die gleichen Komponenten beim anderen hinzu und das Maß an Flexibilität bei beiden. Je nachdem, wie das zusammengeht, sieht das Resultat aus. Ich meine, daß unsere Kultur grundsätzlich lieblos und liebesfeindlich ist. Dadurch, daß sie als obersten Richtwert die Vernunft in allen Lebenslagen fordert, wird sie zum absoluten Feind von Liebe und Bedingungslosigkeit.

Rationalität im Sinne von Verläßlichkeit und Zuverlässigkeit spielt aber auch im emotionalen Bereich eine wichtige Rolle.

Richtig. Aber wie ist es denn, wenn man das Gefühl hat, heute braucht mich meine Frau, mein Kind, mein Freund, die Arbeit kann warten. Erlaubt unsere Gesellschaft das? Ist es nicht so, daß die Umgebung so etwas häufig gar nicht toleriert? Das meine ich mit dem Maß, in dem die Gesellschaft Liebe zuläßt. Und eine Umwelt schafft, in der der Wunsch, einen anderen zu besitzen, größer oder kleiner sein kann.

Je liebesfeindlicher die Gesellschaft gerade ist, desto mehr tut Untreue weh?

Je sicherer wir uns in unserem gesellschaftlichen Umfeld fühlen können, desto weniger besitzergreifend müssen wir sein. Ist Treue in Mode, geht mal wieder Angst vor der Zukunft um. In Schweden konnten wir früher länger als in vielen anderen Gesellschaften ohne tägliche Existenzsorgen und Zukunftsangst leben. Die sprichwörtliche „schwedische Sünde“ hat es tendenziell so sicher gegeben und hat mit dem anderen Stichwort, dem Wohlfahrtsstaat, zu tun. Aber das war vor unserer großen ökonomischen Verunsicherung. Interview: Reinhard Wolff