Die schwarze Seele der Macht

Ein neues Buch beschreibt, wie die Staatssicherheit mit psychologischem Wissen und operativ psychiatrischen Maßnahmen sich den idealen DDR-Bürger und idealen IM heranzog  ■ Von Udo Scheer

Gleich zu Beginn Klartext: „Überall auf der Welt setzen Diktaturen und ihre Geheimdienste Sozialtechniken und psychologisches Wissen gegen politische Gegner ein.“ Es sind die „leisen Methoden“, die die Herausgeber Klaus Behnke und Jürgen Fuchs in ihrer Analyse „Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Staatssicherheit“ untersuchen. Dank der einmaligen Offenlegung von Geheimdienstakten und ergänzt durch Wortmeldungen von Wissenschaftlern, Psychologen, Psychiatern und Betroffenen, werden Praktiken, Hintergründe und Ziele des Machtmißbrauchs in der DDR sichtbar.

So beschreibt Herbert Loos in seinem für sich schon lesenswerten Abriß der Entwicklung der Psychiatrie von Paracelsus bis zum Berufsfeld unter administrativ-zentralistischen Bedingungen, daß „psychiatrisch ungesteuerte potentielle Störer vorübergehend in Kliniken verwahrt“ wurden, wenn der Arbeiter-und-Bauern-Staat zu Feierlichkeiten rüstete. Ursula Plog, Vorsitzende der Kommission zur Aufklärung des Mißbrauchs der Psychiatrie durch die Staatssicherheit, bestätigt anhand von Patientenberichten diese Ungeheuerlichkeit ebenso wie ein „systematisches Psychiatrisieren“. Der Satz: „Das psychiatrische Krankenhaus ist ein Spiegel der Gesellschaft“ (Anette Simon) bekommt so einen tiefen Sinn.

Geprägt durch eigene Erfahrungen und Gespräche mit Stasi- Opfern, haben der Psychologe Klaus Behnke und der Schriftsteller und Psychologe Jürgen Fuchs mit der „Operativen Psychologie“ ein besonders heimtückisches Spezialgebiet des MfS untersucht. Gewonnene halbwissenschaftliche Erkenntnisse nutzte man im MfS zur Lenkung und „Stabilisierung“ von IMs ebenso wie zur „Disziplinierung“ oder zielgerichteten „Zersetzung“ von Oppositionellen und zur „Beeinflussung großer Menschenansammlungen“.

Systematisch wurde eine enge persönliche Bindung der Inoffiziellen Mitarbeiter an ihre Führungsoffiziere gefördert. Eine Anweisung lautete, jederzeit für die persönlichen Probleme des IMs dazusein. Gleichzeitig lernten sie Techniken, sich glaubwürdig in das Vertrauen der zu Oberservierenden einzuschleichen, Mißtrauen innerhalb oppositioneller Gruppen zu säen und Selbstzweifel zu erzeugen. Mitunter vorgekommene Suizide von „operativ Bearbeiteten“ wurden toleriert, denn wer sich öffentlich kritisch gegenüber dem System verhielt, störte den Entwurf vom idealen DDR-Bürger. Nach Klaus Behnkes Aktenanalyse erscheint der sozialistische Zieltypus „als ein wehrloses (da isoliert und verängstigt), gehorsames (da diszipliniert) und erpreßbares Wesen ohne jede Individualität (da ohne Selbstvertrauen und aus eigener Kraft erfolglos), das ... beliebig verfügbar war“.

Selbst Jugendliche und Kinder wurden, wie eine Untersuchung belegt, von den Führungsoffizieren, meist unter Mitwirkung der Eltern, ge- und verführt. Die Jugend sollte den Staat vor der Jugend schützen. Jürgen Fuchs faßt die Mittel und Methoden zur vollständigen Überwachung und Verhinderung kritischer Energien in die Worte: „Wenn man bedenkt, daß MfS-Offiziere und IMs mehrere hunderttausend Menschen zählten, die Grenze geschlossen war und Partei, Armee, Polizei mitgedacht werden müssen, bei einer Bevölkerungszahl von nur 16 Millionen, da beginnt man zu begreifen, was für eine totalitäre Inbesitznahme der inneren Natur des Menschen versucht wurde.“

Wie relativ einfach es war, sich aus den Fängen der Stasi zu lösen, zeigt Andreas Schmidt an Beispielen. Von seinen IMs forderte das MfS Disziplin, Pünktlichkeit, Kontaktbereitschaft, Verschwiegenheit. Somit bedurfte es häufig „nur“ der moralischen Kraft zur Dekonspiration. Oft genügte schon Unzuverlässigkeit und Redseligkeit.

Einer, der die psychologische Wissenschaft gegen die Menschen zu benutzen lehrte, war Jochen Gierke. Als MfS-Offizier studierte er wie Jürgen Fuchs bis 1975 in Jena Psychologie. Daneben schrieb er Berichte, unter anderem über seine Kommilitonen. Später unterrichtete er an der Juristischen Hochschule in Potsdam Stasi-Vernehmer und Personal für den Strafvollzug in „Operativer Psychologie“.

Deren Aufgabe bestand darin, Verhaftete gefügig zu machen, Persönlichkeiten zu brechen, auch durch „psycho-physische Extrembelastungen“, also Folter (siehe Jürgen Fuchs „Vernehmungsprotokolle“ [1978]). Inzwischen nutzt der Ex-Offizier Jochen Gierke sein psychologisches Wissen als Wahlkampfmanager der PDS in Potsdam.

Einer, der sich über Jahre gegen die Inbesitznahme durch die Staatssicherheit wehrte, ist der 1983 aus dem Schuldienst der DDR entfernte Edwin Kratschmer. Heute hat er einen Lehrauftrag an der Universität Jena. Sein Nachwort führt den Kampf gegen die Vereinnahmung, aber auch persönliche Folgen, beklemmend vor Augen.

„Zersetzung der Seele“ erscheint in einer Zeit des in Medien oft geschürten Überdrusses am Thema DDR und Staatssicherheit. Das Buch will nicht spektakulär sein. Es gibt einen Einblick in die schwarze Seele der Macht, es ist ein dokumentarischer Beleg für die Manipulation und den Mißbrauch des Menschen im Namen einer Idee – und es verweist auf die Folgen, die uns weiter verfolgen. Makaber genug, reichen sie offenbar bis in den Verlag, der diesem Buch im Verrat an seiner Tradition ein „Kochbuch“ des Ex-HVA-Generaloberst Mischa Wolf (Hauptverwaltung Aufklärung des MfS) nachschob. Schon darum sollte die „Zersetzung“ zur Kenntnis genommen werden.

Klaus Behnke/Jürgen Fuchs (Hrsg.): „Zersetzung der Seele“, Rotbuch Vlg. Tb. 340 S., 24,90 DM