Aus Rot-Grün gelernt?
: Kein Krötenschlucken

■ Michael Cramer zieht rot-grüne Verkehrsbilanz

Die Koalitionsvereinbarungen über die Verkehrspolitik waren in der AL eine wesentliche Legitimation für die Befürwortung grüner Regierungsbeteiligung. Nicht nur die Koalitionsvereinbarung, auch die Taten 18monatiger rot- grüner Verkehrspolitik können sich sehen lassen – erst recht nach fünf Jahren rot-schwarzer Koalition.

Tempo 100 auf der Avus, Busspur auf dem Ku'damm und die Sperrung der Havelchaussee für den Autoverkehr waren erste Qualitätsmerkmale rot-grüner Verkehrspolitik. Die Ku'damm- Busspur in Mittellage war das Ergebnis einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit von AL und AG City. Auch die Taxiverbände waren zufrieden. Deshalb waren alle Versuche der CDU erfolglos, nach den Wahlen die Busspur auf dem Ku'damm wieder abzuschaffen.

Unumstritten war die Einführung des Umwelt-Abos, mit dem die BVG-Jahreskarte um 50 Prozent billiger wurde. Sogar die CDU stimmte zu. Der durchgehende Nachtverkehr auf der U1 und der U9 am Wochenende, der Einbau von behindertengerechten Hubliften an den Eindeckerbussen waren sichtbare Zeichen der damals auch sozial orientierten Verkehrspolitik des rot-grünen Senats. Gemäß der Erfahrung, daß ein attraktiver öffentlicher Personennahverkehr allein nicht ausreicht, um die Leute zum Umsteigen vom Auto auf die BVG zu bewegen, wurde – bisher beispiellos – mit der Streichung der Nord-Süd-Straße alias Westtangente, der B101 und der BAB Neukölln der Schnellstraßenbau gestoppt. Dem Autobahnausbau am Sachsendamm stimmten wir allerdings zu. Zehn Jahre lang war der Lückenschluß an Honeckers Veto gescheitert, weil er der Unterquerung des Eisenbahngeländes nicht zustimmte. Wir hatten kein Interesse daran, den Frust darüber auf Rot-Grün zu lenken. Der Prüfauftrag für den Straßenbau am geplanten Grenzübergang Schichauweg wäre – wie alle anderen Prüfaufträge auch – zu unseren Ungunsten ausgefallen. Die Einheit machte eine Entscheidung überflüssig. Die Parkgebühren wurden verdoppelt, neue Tiefgaragen in der Innenstadt gestrichen und fast 80 Prozent aller Straßen in West-Berlin zu Tempo-30-Zonen erklärt. In diesen Straßen wurden wegen des hohen Unfallrisikos keine Geweg-Radwege mehr gebaut. Auf den übrigen Straßen hat die Koalition abmarkierte Fahrradstreifen zu Lasten des Autoverkehrs favorisiert. Außerdem wurde in der Bauordnung die Auflage, Kfz-Stellplätze bereitzustellen, entschärft.

Die Investitionsmittel im U- und S-Bahnbau wurden von 170 auf 340 Millionen Mark verdoppelt, wobei für den U-Bahn-Bau eine Höchstgrenze von 60 Millionen pro Jahr festgelegt wurde. Für die 71 Kilometer brachliegender S-Bahn-Strecken wurde vereinbart, bis 1992 den Südring und die Strecke nach Lichterfelde- Süd (1993) und bis 1994 den Nordring und die Strecke nach Spandau (1993/94) wieder in Betrieb zu nehmen. Mit den Planungen wurde sofort begonnen. Leider floß durch die Luxussanierung viel Geld in Betonkubikmeter statt in Gleiskilometer.

Foto: Paul Glaser

Nach dem 9. November 1989 reagierten wir in der Verkehrspolitik sehr flexibel auf die neue politische Situation. Priorität bekamen die S-Bahn-Verbindungen nach Potsdam, Hohen Neuendorf und Blankenfelde sowie die Wiederherstellung der U-Bahn-Linie zwischen Wittenbergplatz und Mohrenstraße. Noch im Haushalt 1991 wurden 40 Millionen Mark für den S-Bahn-Nordring von Westend nach Jungfernheide zur Verfügung gestellt. Die Gelder hat der rot-schwarze Senat bis heute nicht ausgegeben. Statt dessen verhängte er einen fünfjährigen Baustopp.

Während in vielen anderen Bereichen von weiten Kreisen der Grünen die Regierungsbeteiligung im wesentlichen als Krötenschlucken empfunden wurde, war das in der Verkehrspolitik nicht so. Dort wurde die Wende eingeleitet. Unterschiede zwischen SPD und AL gab es über den Weg, nicht aber über das Ziel.

Die Einrichtung von Busspuren ist ein ganz wesentliches Verdienst von Rot-Grün. Ihr Umfang wurde in fünf Jahren Großer Koalition praktisch nicht erweitert. Während das Busspurnetz in West-Berlin unter Rot-Grün innerhalb von 18 Monaten von acht auf 40 Kilometer ausgebaut wurde, ist es im vereinten Berlin in fünf Jahren unter Rot-Schwarz nur um lächerliche 27 Kilometer gewachsen.

Die SPD hat alle Entscheidungen dem zuständigen Verkehrssenator überlassen. Eine sozialdemokratische Verkehrspolitik ist derzeit überhaupt nicht erkennbar.

Fazit: Für die Zukunft bleibt als Erfahrung wichtig, daß unter Rot-Grün eine Wende in der Verkehrspolitik eingeleitet werden konnte. Michael Cramer