Champignons, Traber und Schafe

Die verlassenen Nato-Bunker im „Fulda Gap“ und anderswo: Pilze- und Pferdezüchter haben mit den Hinterlassenschaften des Kalten Krieges einen pragmatischen Frieden geschlossen  ■ Von Johannes Winter

Das Tor steht sperrangelweit offen, der Mann dahinter ist in ein Pornoheft vertieft, der Wind trägt den Gestank von Moder herüber. Da beginnt in meinem Kopf ein Film zu laufen, und aus dem Gedächtnis tauchen Bilder auf und Empfindungen. Was ich vor mir sehe, sind Berge verrottender Gartenabfälle. Was ich erinnere, sind Bündel steil aufragender Geschosse, hermetisch weggeschlossen. Dazwischen liegen zwölf Jahre.

Ich habe mich auf eine Tour de Bunker begeben, im Gepäck den „Militarisierungsatlas der Bundesrepublik“, ein unentbehrlicher Klassiker der Friedensbewegung aus den achtziger Jahren. Der listet immerhin etwa 250 Nato-Depots auf, das macht die runde Summe von 5.000 Bunkern in westdeutschen Wäldern.

Ich erkenne die Lichtung wieder, den Zaun, die Peitschenlampen. Vergeblich aber forsche ich nach Hinweisen wie „Militärischer Sicherheitsbereich“ und „Vorsicht, Schußwaffengebrauch“, umsonst auch die Suche nach Spuren einer zusätzlichen Warnanlage im Inneren der hohen Umzäunung: Von den Gänsen, die einst gegen etwaige Eindringlinge zum kapitolinischen Schnattern ansetzen sollten, finde ich keine Feder mehr.

Aus der Flugabwehrstellung auf dem Finkenberg im Wald bei Kleinlüder ist ein Wertstoffhof geworden. Statt Hawk-Raketen der Nato ragen Komposthügel in die milde Herbstluft. Der Müllmann im Arbeitskittel läßt mich ein. Heiterkeit befällt mich. Die alte, mit kalter Wut vermischte Beklemmung angesichts todbringender Waffensysteme mit Atomsprengköpfen will sich nicht mehr einstellen.

Der Gang übers Gelände endet an einem Gatter, Blöken ertönt. Über die Abschußrampe hinter hohen Erdwällen trottet eine Herde schwarzköpfiger Rhönschafe, bleibt stehen und starrt mich an. Ihre Stallungen finde ich in ehemaligen Büros, Vorratshütten und Unterständen, deren Böden mit Kötteln übersät sind, die Fenster der Flachbauten zerschlagen.

An den Wänden hat ein Krieg der Parolen getobt: „Böhse Onkelz“ gegen Kurt Cobains „Nirvana“. Jugendliche sind zuerst in das geheimnisumwitterte, einst streng abgeschirmte Areal in der Waldeinsamkeit eingedrungen und haben es erobert. Vandalismus löste den Kalten Krieg ab. „Mutwillige Sachbeschädigung“, heißt es im Polizeibericht, Täter unbekannt.

Seit 1993 sind die Truppen der US-Armee abgezogen worden, und seitdem herrscht Entspannung im Land. Konversion ist angesagt, die Umnutzung militärischer Einrichtungen für zivile Zwecke. Der Wertstoffhof des Landkreises Fulda besteht seit einem Jahr.

Ob Bimbach oder Giesel, Sterbfritz oder Alsberg – so versteckt die Nato-Lager Osthessens im Dunstkreis der Hawk-Raketenstellung auch untergebracht sein mochten, sie alle sind nun leer, besenrein zurückgelassen vom amerikanischen Verbündeten.

Pro Depot reihen sich im Durchschnitt 20 Bunker aneinander, rechteckige Betonkästen mit meterdicken Wänden, oberirdisch und mit Erde bedeckt – Iglus in der Fachsprache – die längst von Huflattich, Ginster oder niedrigen Fichten überwuchert sind. Das Heidekraut leuchtet im Herbstlicht, die militärgrünen und neun Tonnen schweren Rolltore nicht. In den achtziger Jahren dachte ich bei ihrem Anblick an Sargdeckel, heute an Maulwurfshügel.

Sterbfritz, ehemaliges US-Munitionsdepot. Die erste Halle rechts quillt über von Strohballen. Zwischen den Bunkern weiter hinten taucht ein Mann im Overall auf, in der Hand eine Zange und gelbe „Betreten verboten“-Schilder.

Er berichtet von Eindringlingen mit Glatzen und Kampfhunden, Gotcha-Spielern, die sich wie die neuen Herren aufgeführt hätten, und stellt mir seine Umnutzung vor. Aus Holland importiert er Champignons – weiße! – in Knopfgröße und läßt sie tischweise in vier Wochen und je vier Wellen austreiben. Ihm sind die Bunker als Temperatur- und Klimaanlage für die Pilzzucht eine Investition wert. 15 Grad ohne Unterlaß und die Stahltore sonnenabgewandt nach Norden – Unternehmerherz, was willst du mehr, meint er. Die zuständige Forstbehörde ist angetan. In Immichenhain, laut Handbuch ein „Korpsmunitionsdepot“, wachsen Austernpilze. Der Betreiber der Zucht hat noch weitere Delikastessen in Planung: Die Samthaube, „ein Pilz wie ihn Walt Disney malen würde“.

Hans-Joachim Schmidt von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung kommentiert die gewaltige Zahl der Bunker in den Nato-Depots gelassen mit dem Hinweis auf den „geostrategischen Nachteil des Hauptverbündeten“. Da die Amerikaner ein Ozean vom vermeintlichen Schlachtfeld Europa getrennt habe, seien sie gezwungen gewesen, große „strategische Reserven für die Kampfverbände“ anzulegen.

Auf der Landstraße hält mich eine Arbeitskolonne auf, die unter einer Eisenbahnbrücke Löcher in der Fahrbahn zu glätten hat. Der Krieg ist vorbei, bekomme ich auf meine Frage nach dem Sinn der Maßnahme zu hören. Es handelt sich um Sprengschächte, sagt einer. Die würden jetzt mit Beton gefüllt. Ich entsinne mich: Sprengdeckel, plane Hauben über tiefen Kammern, waren ein Lieblingsobjekt der Friedensbewegung. Mit roter Farbe oder Totenköpfen bemalt oder mit Ragofix verklebt, sollten die kanaldeckelartigen Insignien der Nachrüstung deren Zynismus wie Menetekel einer bevorstehenden Apokalypse vor Augen halten. Waren sie doch nicht nur gegen den Feind aus dem Osten, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung gerichtet, im „Verteidigungsfall“ mit Atomminen gefüllt. Vormarsch und Flucht sollten gleichermaßen verhindert werden. Sabotage war daher Ehrensache.

Und jetzt: pure Betonabfüllstationen, bis fünf Meter tief unter den Asphalt. Mein Vorschlag, diese Scheusale des Nato-Doppelbeschlusses als Krötentunnel zu recyclen, kommt zu spät.

Was geheim bleiben soll, ist Nahrung für Gerüchte. Vielleicht sind deshalb nach dem Ende der Waffenarsenale in den Wäldern die Nachbarn in den Dörfern ringsum so außer sich geraten. Zwölf Jahre zuvor hatten sie mit Parolen auf Holzbrettern und Bettlaken gegen jedes lokale Depot protestiert. Nach dem Abzug von Militär und Munition waren die heimischen Nato-Lager monatelang Abenteuerspielplatz. Noch vor den Glatzen und ihren Hunden kamen auch einige ehemalige Friedenskämpfer, um ihr Mütchen zu kühlen. Die Randale im stillen Forst wurde abgebucht als späte Rache, Gegengewalt oder Antiimperialismus.

Ich befinde mich zwischen all den versteckten Lagern im „Fulda Gap“. Die „Fuldaer Lücke“ avancierte für die Menschen, die gegen Nachrüstung und Neutronenbombe, Doppelbeschluß und Marschflugkörper kämpften, zu dem Symbol für den atomaren Zynismus. Sah doch ein geheimes US- Lehrbuch mit dem Titel „Conventional Nuclear Operations“ just hier im Schatten der deutsch-deutschen Grenze, der Demarkationslinie zwischen den Machtblöcken in Ost und West, ein „atomares Gefechtsfeld“ vor. Mit dem Ergebnis, daß das US-Handbuch zum Lehrbuch des Widerstandes wurde.

Peter Krahulec, Fachhochschullehrer in Fulda und eine Leitfigur der Friedensbewegung, gibt mir Nachhilfe mit dem berüchtigten „Hattenbach-Film“, der als buntes Planspiel eines US-geführten Atomkrieges in den osthessischen Wäldern die Agitation gegen denselben unfreiwillig munitioniert hatte. Auch das bei der Umzugshilfe für einen amerikanischen Offizier erbeutete Brettspiel „Fulda Gap – The First Battle of the Next War – A Future-History Simulation Game“ als eine Art Vor-Spiel für GIs und Zeitvertreib in den Kasernenstuben, legt er mir aus seinem Musterkoffer in Sachen Friedenskampf vor und erinnert an die polemische Übersetzung von „Gap“ – Giftgas, Atom, Panzer, wie sie damals allabendlich im Hessischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Auch Manöverunterlagen und Bunkerbaupläne belegen noch einmal die listige Schlagkraft einer Bewegung, in der Hunderttausende von Friedensfreundinnen und -freunden gegen Krieg und Rüstung gebetet und geschwiegen, gefrühstückt und getrommelt, geklaut und geblufft, marschiert und demonstriert hatten. Professor Krahulec, der Veteran des Widerstandes, hat sich mit dem jüngsten Abschnitt der Geschichte versöhnt. Das „Nato-Verdikt Fulda Gap“ – begrenzter Atomkrieg in der Heimat – ist für ihn ersetzt durch das „Unesco-Projekt Bisphärenreservat Rhön“ – Naturschutz im Dreiländereck Hessen, Bayern, Thüringen. Eine neue Herausforderung für politisches Engagement.

Es zieht mich nach Westen, weg aus der heißen Zone des Kalten Krieges. Ich nehme im „Mittelabschnitt“ der früheren Republik gigantische Nato-Depots in Augenschein wie die Lager Köppern-Süd im Taunus mit fast 400 oder Lampertheim am Odenwald mit über 300 Bunkern. Zu Zeiten der Friedensbewegung, als das Alphabet mit atomar, biologisch, chemisch zu buchstabieren Pflicht war, vermutete man dort die Dreieinigkeit der Horror-Waffen. „Dem Naherholungsbedürfnis zugeführt“, mithin der Wiederaufbereitung ausgebrannter Städter aus Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen, werden soll das eine, sagt mir ein Oberforstrat. Im anderen Fall spricht sich ein Förster dringlich dafür aus, Zaun und Natur in ungestörter Eintracht für ein Biotop im Wald sorgen zu lassen, ohne schädliches Rotwild und im Einverständnis mit der örtlichen Friedensinitiative. Eine Beseitigung der Bunker auf Kosten der Steuerzahler sei „volkswirtschaftlich sinnlos“, auf deutsch: unbezahlbar.

Twisteden im äußeren Westen der Republik, gleich neben dem Wallfahrtsort Kevelaer in Sichtweite der holländischen Grenze am Niederrhein gelegen, weit ab vom Schußfeld also, aber mit einem riesigen Nato-Lager versehen: ein POMCUS (Propositions Overseas Material Configures Unit Sets) à la Köppern-Süd oder Lamperheim, 325 Bunker stark. Heinz Verführt chauffiert mich die einen Kilometer langen Bunker- Alleen auf und ab. Es sind dreizehn insgesamt. Der CDU-Kommunalpolitiker, Immobilienmakler und Gärtnereien-Besitzer, von unverhüllter Euphorie des Pioniers getragen, gibt Auskunft: Ich habe mir ein neues Mekka der Traberzunft vorzustellen.

Schon bald sollen hier die ersten 50 Pferde bunkermäßig eingestellt werden, bis zu 2.000 Traber hätten in den Boxen hinter dickem Beton Platz, pro Bunker sieben und außerdem Platz für Trainer, Jockey und Sulky; eine nagelneue Trabrennbahn – nur fürs Training – ist im angrenzenden Wald schon weit gediehen. Das Projekt einer GmbH und Co KG wird mir ausgemalt, die ein Trainingszentrum für Traber gewinnbringend anzulegen hofft. Auch so läßt sich das große Werk einer Wiederverwertung der 5.000 betonierten Altlasten des Kalten Krieges in Trab bringen. In den großen, leeren Rest werden Fledermäuse einziehen.