Groß-Berlin wächst steinern-wilhelminisch in die Wälder

■ Friedrich Leydens sechzig Jahre alte „Geographie der Weltstadt“ wurde neu aufgelegt. Heute ist sie aktueller denn je

„Je nach den Bedürfnissen des Augenblicks und der engsten örtlichen Perspektive ist das heutige Groß-Berlin zusammengebaut worden. Irgendwo in der Landschaft fängt es an, bei Lichterfelde wie bei Weißensee, und irgendwo in der Landschaft verdichtet sich die lockere Vorortsiedlung allmählich und ohne Übergang zu demjenigen Gebilde, das man als den großstädtischen Kern bezeichnen könnte.

Wer die näheren Umstände kennt, die z.B. bei der Anlage von Siemensstadt und der Wahl der hierfür in Betracht kommenden Örtlichkeit ganz überwiegend fiskalische Gründe hat maßgebend sein lassen, wird den Versuch als aussichtslos aufgeben, in Groß- Berlin ein großes Berlin, mit einheitlichen und weitwirkenden Gesetzmäßigkeiten, suchen zu wollen.“

Was klingt wie eine Grundsatzkritik an den derzeitigen Leitlinien Berliner Stadtentwicklung, wurde bereits vor mehr als sechzig Jahren geschrieben. Das 1933 erschienene Standardwerk „Geographie der Weltstadt“ ist von verblüffender Aktualität. Sein Autor, der 1891 in Freiburg als Sohn jüdischer Eltern geborene Friedrich Leyden, beschäftigte sich eher zufällig mit Berlin, avancierte jedoch schnell zum Experten.

Seinen ursprünglichen Namen, Friedrich Levy, legte er nach dem Scheitern seiner Habilitationspläne ab. In die Reichshauptstadt verschlagen, kultivierte er seine fachliche Bindung und verschaffte sich – anhand von ausführlichen Begehungen – fundierte Kenntnisse. Doch schon kurz vor der Veröffentlichung seines Werks mußte er nach Holland emigrieren.

Das Buch, das er zurückgelassen hat, wurde zwar nicht euphorisch aufgenommen, galt aber als profundes und bis dato umfänglichstes geographisches Werk über das seit 1920 existierende Groß- Berlin.

In neun Abschnitten, denen umfangreiche Tabellen und ein Ortsregister angegliedert sind, entrollt Leyden ein dichtes Bild der Stadt. Topographie, Klima, Flora und Fauna werden gründlich dargestellt. Neben der Analyse der baulich-räumlichen Entwicklung stehen Aussagen zu Bevölkerungsstruktur, Wirtschaft und Verkehr. Überraschend ist, daß es eine Art Vorschau auf heutige Probleme enthält. Das Berlin der Weimarer Republik scheint so weit weg nicht zu sein vom heutigen.

Leyden erweist sich, vor allem in bezug auf die räumliche Entwicklung, als hellsichtig. Beispielsweise erkennt und benennt er die Potentiale des Nord-Ost-Raumes, der Gegend um Karow, Blankenburg und Buchholz, die auch heute Entwicklungsschwerpunkt ist: „Hier liegen also für die künftige Erschließung und Ausgestaltung der randlichen Teile von Groß- Berlin schon heute ungewöhnlich günstige Voraussetzungen vor.“

Auch andere seiner Beobachtungen haben ihre Gültigkeit behalten: „Der Teltow-Kanal ist das Rückgrat einer randlichen Industrieentwicklung, die gleichsam einen zweiten Außengürtel um den eigentlichen Großstadtkern, der auf den Raum innerhalb der Ringbahn beschränkt bleibt, gezogen hat.“

Von den seinerzeit spektakulären Projekten lobt er ausdrücklich das Berolina-Haus mitsamt dem umgebauten Alexanderplatz gerade wegen deren konsequent moderner und kohärenter städtebaulicher Gestaltung. Alle anderen Beispiele hingegen – das Kolumbus-Haus am Potsdamer Platz, Karstadt am Hermannplatz, das Kathreiner-Haus am Kleistpark und das Shell-Haus am Landwehrkanal – zeigen seiner Ansicht nach, „daß immer nur vereinzelt und anscheinend mit vollster Willkür hier und dort in das Stadtbild von Groß-Berlin diese riesigen, weithin sichtbaren und die ganze Nachbarschaft beherrschenden Hochhausbauten hineingestellt worden sind“.

Zugleich kommt eine latente Aversion des Autors gegen die „wilhelminische“ Stadt und ihre bauliche Struktur zum Ausdruck – eine Abneigung, die bei den heutigen Apologeten des „steinernen Berlin“ sicherlich keine freudige Resonanz findet.

In die nüchterne Darstellung schleichen sich kulturkritische Kommentare. So beklagt sich Leyden, der Zugewanderte, über die hiesigen Umgangsformen, über „die besondere Rücksichtslosigkeit des Berliners, dem jede äußerliche höfliche Verbindlichkeit fremd ist“.

Leyden selbst charakterisiert seine Übersicht als zwar grobmaschig, aber ausreichend, „um erkennen zu lassen, daß nur wenige Gesetzmäßigkeiten in diesem überaus mannigfachen Bilde hervortreten“ – höfliche Umschreibung einer als ungenügend empfundenen Gesamtplanung.

Leyden unterscheidet einen von der Ringbahn umschlossenen großstädtischen Kern, an den sich eine Vorortzone anschließt. „Laubenkolonien und Industriesiedlungen, rein dörfliche Reste und unfertig gebliebene Vorstädte schalten sich neben- und zwischeneinander, lockern sich randlich auf, wachsen teilweise in die benachbarten Wälder hinein und finden schließlich ihr Ende. Nur die Rieselfelder bilden im Nordosten wie im Süden eine eindeutige Grenze der Stadt.“ Robert Kaltenbrunner

Friedrich Leyden: „Groß-Berlin. Geographie der Weltstadt“. Reprint mit einem Nachwort von Hans-Werner Klünner, Berlin. Berlinische Bibliothek im Gebr. Mann Verlag, Berlin 1995, 222 S., 73 Abb., Ln., 148 DM