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■ Gila Lustiger liest aus ihrem Roman „Die Bestandsaufnahme“

Auf den ersten Blick scheint „Die Bestandsaufnahme“ eher eine Sammlung von Kurzgeschichten als ein Roman. Gila Lustiger erzählt erfundene Begebenheiten auf der Basis historischer Tatsachen aus dem Deutschland der 20er, 30er und frühen 40er Jahre. Fiktive und reale Lebensläufe kreuzen sich, und die Protagonisten wechseln von Kapitel zu Kapitel. Erst allmählich deutet sich in den witzig erzählten Geschichten durch Ironie und Sarkasmus die Katastrophe an.

„Allerheiligste kassenärztliche Vereinigung. Falls Sie es noch nicht wissen sollten: Ich bin nicht das Gotteslamm. Ich eigne mich für diese Rolle nicht. War schon immer wehleidig.“ Der Alkoholiker, der vor sich hinspricht, erträgt das „Pensum Leben, um das er nicht gebeten hat“, nur mit Hilfe von Schnaps, und das ist auch kein Wunder, denn: Der Mann soll zwangssterilisiert werden. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses macht es möglich, und der Arzt, der es vollstreckt, ist „ein gewissenhafter Mensch. [...] Und die paar Bedenken, die ihm nachts kommen, es könnte doch sein, daß sich die Herren vom rassenpolitischen Amt geirrt haben, die werden mit der Gehaltserhöhung verscheucht.“ Der Roman handelt von Mördern in Arztkittel und Uniform, von Opfern, die gedemütigt, verhaftet und deportiert werden. Dazwischen Karrieristen und Feiglinge, Couragierte und Ignoranten – die Rollen wechseln, eine starre Einteilung in Gut und Böse gibt es nicht. Doch faszinierend an dem Buch ist nicht so sehr das Mosaik der oft grausigen Begebenheiten, das Lustiger zusammensetzt, sondern ihre Sprache. Die Ironie und die genaue Beobachtung legen Details offen und schaffen eine Distanz, die momentweise das Beklemmende der Ereignisse durchbricht. Es sind nicht die eigenen Erfahrungen, die die Autorin beschreibt, sondern die der Generation ihres Vaters, der Auschwitz überlebt hat. Gila Lustiger ist Anfang 30, in Frankfurt geboren, nach Israel emigriert und lebt seit acht Jahren in Paris.

Der Spiegel ließ in der letzten Woche kein gutes Haar an ihrem Roman, weil die Autorin auf das „Zentrum des Schreckens“ zugehe, angesichts dessen der Rezensent allein Sprachlosigkeit für angemessen hält. Die Darmstädter Jury hat „Die Bestandsaufnahme“ dagegen zum „Buch des Monats Oktober“ erkoren, und die FAZ nennt Lustigers Debüt einen „großen Gesellschaftsroman“. Bei ihrer Lesung im Brecht-Haus kann man sich heute abend selbst ein Urteil bilden. Susanne Heim

Heute, 20 Uhr, Literaturforum, Chausseestraße 125