Der Historiker Ulrich Herbert hat spannende Aufsätze „Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert“ publiziert. Der Band endet mit einem Plädoyer für ein Einwanderungsgesetz  ■ Von Horst Meier

Konflikte zwischen Fremden und Einheimischen gehören zum Alltag von Einwanderungsgesellschaften; sie auszuhalten, dazu braucht es praktische Vernunft, Geduld und eine gute Portion Gelassenheit – woran es überall mangelt. In Deutschland aber steht die sogenannte Ausländerfrage im Schatten der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert erkundet verschiedene Aspekte der stets prekären, zum Teil dramatischen Beziehung, wie sie sich zwischen „Fremden und Deutschen im 20. Jahrhundert“ entwickelte. Seine zwischen 1989 und 1994 verfaßten Aufsätze machen ein material- und gedankenreiches Buch aus, das zentrale Elemente der NS- Politik untersucht.

Schon der erste Aufsatz wirft ein Schlaglicht darauf, wie vorbelastet das Verhältnis zwischen Fremden und Deutschen ist. Herbert geht den „Traditionen des Rassismus“ nach, deren Grundstein Akademiker der verschiedensten Disziplinen schon vor der Diktatur legten. Die Nazielite konnte darauf aufbauen und ihr Konzept einer umfassenden „Biologisierung des Gesellschaftlichen“ vorantreiben. Man definierte abweichendes Verhalten als eine anlagebedingte und daher nicht besserungsfähige Deformation – und verlangte die rabiate „Säuberung des deutschen Volkskörpers“. Die Kombination von sozialdarwinistischem Ausleseprinzip und ideologischem Rassebegriff brachte einen Rassismus hervor, der nach innen und außen äußerst aggressiv war.

So führte die anfängliche Ausgrenzung und Verfolgung von „Asozialen“ und Geisteskranken, Trinkern und Arbeitsscheuen, von Homosexuellen und Zigeunern, von Prostituierten und „Gewohnheitsverbrechern“ hin zur „rassehygienischen Sonderbehandlung“, das heißt zum Mord an Russen, Polen oder Ukrainern. Und kulminierte in der Ermordung der europäischen Juden, die als gefährlichste „Feindrasse“ bekämpft wurden. Juden galten den Nazis als Inkarnation der verwerflichen Entwicklungen der Moderne – „seien dies ,Wucher‘ und Kapitalismus, ,Intellektualismus‘, Großstadtleben und ,jüdischer Bolschewismus‘“.

Mit der „Generation der Sachlichkeit“ wendet sich Herbert den Jahrgängen der 1903 bis 1910 Geborenen zu, denen der Erste Weltkrieg zu einem außerordentlichen, starken Jugenderlebnis wurde. Aus dieser Generation ging eine Kerngruppe der NS-Vernichtungspolitik hervor. Anhand der völkischen Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre, namentlich des einflußreichen „Deutschen Hochschulrings“, skizziert Herbert, in welchem Milieu jene weltanschaulich geprägt wurden, die später zur akademischen Führungselite von Gestapo und Reichssicherheitshauptamt aufstiegen: man empfand und dachte „großdeutsch“ und antisemitisch.

Die sogenannte Reichskristallnacht markiert Herbert als den Wendepunkt der antisemitischen Strategie des Regimes. Der bis in die NSDAP hinein als anstößig empfundene „Radau-Antisemitismus“ der SA-Totschlägertrupps wurde vom unspektakulären Terror der Bürokratie abgelöst. Dieser war der Form nach moderater als die Pogrome, der Sache nach ermöglichte er aber eine bis dahin unbekannte Radikalisierung. Als leidenschaftslose Verwaltungsaufgabe gestellt, entwickelte der Antisemitismus eine tödliche Effizienz: „Insofern wirken die Ereignisse der Nacht vom 9. auf den 10. November vielleicht tatsächlich wie ein Rückfall in die Barbarei. Die (danach) eingetretene Entwicklung aber ist (...) sehr viel beunruhigender, weil wir darin das Gesicht der modernen Gesellschaft erkennen“, resümiert Herbert.

Drei weitere Beiträge handeln vom Schicksal der ausländischen Zwangsarbeiter und Gefangenen, ohne deren rücksichtslose Ausbeutung die deutsche Kriegswirtschaft schon 1942 zusammengebrochen wäre. Zuletzt schufteten fast acht Millionen im ganzen Reichsgebiet. In der Landwirtschaft und im Bergbau lag die Ausländerquote bei über 50 Prozent. Deutsche fungierten häufig nur noch als Kontrolleure und Meister. Der Widerstand von Zwangsarbeitern, der 1943 immerhin die Mehrzahl der Gestapoaktivitäten band, blieb lange Zeit unbeachtet. Er äußerste sich meist in „Arbeitsbummelei“ oder Flucht, nahm aber gegen Kriegsende auch militante Formen an: In den Ruinen zerbombter Großstädte hatte es die Gestapo mit bewaffneten „Banden“ zu tun, in denen entflohene, meist sowjetische Arbeiter einen verzweifelten Kampf ums Überleben führten.

Herbert würdigt die Auflehnung der Fremdarbeiter als „dritte Säule des Widerstandes“ gegen das NS-Regime – neben den Verschwörern des 20. Juli und der deutschen Arbeiterbewegung. Zu den traurigen Kapiteln der Nachkriegszeit zählt die Tatsache, daß Fremdarbeiter keine Entschädigung bekamen. Als Ausländer gingen sie meist leer aus bei der sogenannten Wiedergutmachung und erhielten nur dann klägliche Beträge, wenn der internationale Druck stark genug war.

Der Beitrag „Über Ausländer und andere Deutsche“, der den Band beschließt, umreißt die hundertjährige Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland. Schon im Kaiserreich wurden Ausländer (vor allem Polen) als billige Arbeitskräfte angeworben und bei nächster Gelegenheit abgeschoben. Aus „Gastarbeitern“ werden indes regelmäßig Einwanderer, Gäste, die bleiben – ein Problem, das bis heute konzeptionslos verwaltet wird. Herberts Skizze mündet in eine pragmatisch orientierte Kritik des unfruchtbaren deutschen Glaubenskrieges, der sich gern in die Scheinalternative „Ausländer raus!“ oder „Macht hoch die Tür!“ verrennt. Die große Wanderung ist nicht zu stoppen, kein Problem kurzerhand zu lösen. Ein Einwanderungsgesetz ist daher in der Tat „weniger ein Gebot der Moral, sondern der Klugheit“.

Herberts Aufsätze sind meist knapp gehalten, argumentieren nüchtern und hart entlang den Fakten und haben stets eine organisierende Idee. Das macht ihre Lektüre so spannend und ergiebig, zumal Herbert unprätentiös und beiläufig manche „sichere“ Annahme in Frage stellt, mithin zum Denken anstiftet.

Ulrich Herbert: „Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert“. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1995, 272 S., 26,90 DM