Revolution im Nahverkehr

Ab dem 1. Januar 1996 wird alles anders bei den deutschen Bummelzügen. Bayern als Vorbild, Hamburg als Buhmann? Nichts ist unmöglich  ■ Von Florian Marten

Hamburg (taz) – Aus bissigen Busfahrern werden schmuseweiche Transportagenten, defizitäre Verkehrsunternehmen verwandeln sich in schmucke Profitcenter und die verbeamtete Behördenbahn mutiert zum modernen Mobilitätsdienstleister: Mit dem 1. Januar 1996 beginnt in Deutschland ein neues Nahverkehrszeitalter. Wettbewerb in offenen Verkehrsmärkten, profitorientiert und dezentrale verkehrspolitische Verantwortung heißen die aktuellen Schlagwörter. Die neuen Bedingungen im deutschen Nahverkehrsmarkt werden von Experten zwar seit 1993 heiß diskutiert und vorbereitet, öffentlich bislang aber kaum zur Kenntnis genommen.

Grundlegend ändern sich die verkehrspolitischen Zuständigkeiten: Nicht mehr Bund, Bundesbahn und Verkehrsunternehmen sind für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) verantwortlich: Ab 1.1.96 bestimmen Städte, Kreise und Bundesländer, wo und warum Busse und Bahnen fahren. Die durch EU-Recht erzwungene Einführung von „Regionalisierung“ und „Bestellerprinzip“ wirft Grundregeln der bisherigen Nahverkehrsorganisation über den Haufen: Verkehrsunternehmen, egal ob in öffentlicher oder privater Hand, können nicht mehr zu defizitärem Verkehr gezwungen werden. Wer eine bestimmte Verkehrsleistung politisch will, muß sie auch bezahlen.

Kurz: Nahverkehr wird, wie Rüstung oder öffentliche Bauaufträge zu einem gigantischen Geschäft. Und: Die Verteilung der staatlichen Subventionen erfolgt nicht mehr in einer komplizierten Mischfinanzierung durch Bundesmittel und regionale Gelder. Der Bund hat sich durch erhebliche, zunächst bis 1998 fest vereinbarte Zahlungen an die Bundesländer freigekauft. Diese wiederum haben in landeseigenen Nahverkehrsgesetzen festgelegt, wie diese Mittel an Städte, Gemeinden und Landkreise verteilt werden. Politische Instanzen vor Ort, künftig sogar mit deutlich mehr Geld ausgestattet als bisher, entscheiden über Qualität und Quantität des Nahverkehrs.

Dabei gelten neue Spielregeln: In Zukunft erhalten Verkehrsunternehmen keine Subventionen mehr – ihnen werden Marktpreise für vereinbarte Leistungen bezahlt. Da diese Leistungen auch europaweit ausgeschrieben werden können, darf sich die Nahverkehrsbranche auf heftigen Wettbewerb freuen. Die Deutsche Bahn AG, die Jahrzehnte lang ihren Nahverkehr verrotten ließ, obwohl er Hauptumsatzträger ist, will beispielsweise jetzt 8 Milliarden Mark in ihr rollendes Nahverkehrsmaterial stecken, um für den künftigen Wettbewerb gerüstet zu sein.

Die ÖPNV-mobile BürgerIn, im verkehrsdeutsch bislang als „Beförderungsfall“ mißverstanden, kann sich in jedem Fall freuen, so Günter Girnau, Chef des einflußreichen Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV): „In Zukunft wird der Fahrgast nicht länger als lästiges Übel angesehen.“ Auch Klaus Daubertshäuser, Personenverkehrschef der Deutschen Bahn AG, strahlt. Er freut sich, daß Deutschland mit seinen „grundlegenden Veränderungen eine Vorreiterrolle“ für Europa einnimmt.

Anders auch als zunächst einige Kritiker aus dem Umweltlager befürchteten, stehen die Chancen für einen besseren Nahverkehr gut. So reihte sich gestern auch der Verkehrsclub Deutschland (VCD) in die Schar der Gratulanten ein und begrüßte die neuen „Chancen, die sich mit der Rationalisierung eröffnen“. Noch freilich, so betont nicht allein der VCD, ist unklar, ob die neuen Chancen auch wirklich genutzt werden: „In einem typisch deutschen Prozeßablauf“, so spöttelt jetzt das Nahverkehrszentralorgan „Bus & Bahn“, ist das Vorhaben nur wenige Wochen vor dem Revolutionsstart am 1.1.96 „nach Begeisterung und Ernüchterung in die dritte Phase – die der Verwirrung – geraten“. Wie die VerkehrspolitikerInnen vor Ort mit ihrer Macht und ihrem Geld wirklich umgehen, wie die Verkehrsunternehmen auf Wettbewerb und Bestellerprinzip reagieren, ist den meisten Akteuren noch unklar. Bürgerbegehren zum Erhalt von Bahnstrecken oder Streckenstillegungen großen Stils, Qualitätsverbesserung oder knallharte Rationalisierung, großflächiger Nahverkehrsausbau oder verkehrspolitische Kleinstädterei – alles scheint möglich.

Die deutsche Nahverkehrslandschaft wird erheblich widersprüchlicher: Im schwarzen Bayern beispielsweise bestehen gute Aussichten für den vom VCD geforderten integralen Taktfahrplan (mindestens jede Stunde ein Zug von jedem Bahnhof in jede Richtung). Im und um den rot-grauen Stadtstaat Hamburg herum sieht es hingegen düster aus. Hier soll die Reform vor allem zur Sanierung des Hamburger Stadthaushaltes dienen. Der VCD schimpfte denn auch, das Konzept für den Großraum Hamburg könne „weder den Anforderungen der Europäischen Gesetzgebung noch eines zukunftorientierten ÖPNV standhalten“.