Die Spuren sind verwischt

Der Sturz Ceaușescus ist immer noch ungeklärt. Die Machthaber schweigen, und den Ermittlern sterben die Zeugen weg  ■ Aus Bukarest Keno Verseck

Rumänien, Dezember 1989: Eine Frau sieht, wie verletzte Demonstranten in einem Bukarester Krankenhaus von der Securitate ermordet werden. Um sie als Zeugin unglaubwürdig zu machen, hängen ihr die neuen Machthaber, die kurz zuvor noch im Dienste des gestürzten Diktators Ceaușescu standen, einen Prozeß wegen Diebstahls an. Am Ende wird ihr niemand die Wahrheit glauben. Gedemütigt, gefoltert und halb irr, gebiert sie ein Kind, dessen Vater ein Securitate-Offizier ist, der sie vergewaltigt hat. Mit diesem Sinnbild eines Zustandes, in dem Wahrheit und Lüge, Gut und Böse verschwimmen, endet der rumänische Film „Die Sachlage“. Er ist jetzt, sechs Jahre nach dem Sturz Ceaușescus, in den rumänischen Kinos angelaufen. Was er andeutet, gehört in Rumänien längst zur Normalität: Sicher ist sechs Jahre nach dem Dezember 1989 nur, daß die Menschen gegen den Diktator auf die Straße gingen. Wer bei und nach seinem Sturz die Fäden zog, das verschwimmt noch immer zwischen den Spekulationen von Amateurgeschichtsschreibern und dem Schweigen der Machthaber.

Exparteifunktionäre und Exsecuritate-Offiziere um Staatspräsident Ion Iliescu halten Jahr für Jahr Gedenkreden zu Ehren der „Revolution und ihrer Opfer“. Ungeklärt sind die Fragen: Wer gab nach der Flucht Ceaușescus am 22. Dezember den Befehl, Waffen an die Bevölkerung zu verteilen? Unter welchen Umständen fand der Prozeß gegen den Diktator statt? Wer ist für die gefälschte Anklage (Völkermord) verantwortlich, für das Todesurteil und für die Ermordung von fast tausend Menschen? Wer waren die mysteriösen Terroristen? Wenn es sie nicht gab, wer hat sie erfunden? Und: Was ist mit den geheimen Milliardenkonten des Diktators geschehen?

Eine Affäre um all diese Fragen macht in Rumänien in diesen Tagen Schlagzeilen. Der Oppositionspolitiker Valentin Gabrielescu beschuldigte den Staatspräsidenten Ion Iliescu kürzlich, er habe den Aufstand gegen Ceaușescu genutzt, um sich an die Macht zu putschen, und sei der moralische Verantwortliche für die mehr als tausend Toten. Gabrielescu ist der Vorsitzende der „Parlamentskomission zur Untersuchung der Ereignisse im Dezember 1989“. Deren Mitglieder haben im Laufe mehrerer Jahre Hunderte von Zeugen verhört, Tausende von Akten gesammelt und gehören fraglos zu den kompetentesten Kennern der Dezemberereignisse.

Gabrielescu glaubt, für seine Putschthese einen Beweis zu haben. Er beruft sich auf ein russisches Stenogramm vom 24. Dezember 1989. Darin erklärt der damalige sowjetische KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow sich aufgrund eines Telefongespräches vom Vortag einverstanden, der „Front zur nationalen Rettung“ in Rumänien „zur Hilfe“ zu kommen. Daß die von Iliescu später gegründete „Front“ an diesem Tag offiziell noch nicht existierte, sieht Gabrielescu als Indiz dafür, daß die Machtübernahme Iliescus geplant war.

Zwar nimmt sich der „Beweis“ im Verhältnis zur Anschuldigung dürftig aus. Doch für andere Behauptungen, die Gabrielescu mit der Putschthese vorbrachte, konnte er nicht einmal solche Indizien nennen. Er wiederholte lediglich den „Konsens der Spekulationen“, der in Rumänien als wahrscheinlichstes Szenario des Dezember 1989 gilt: Um die Massen in Hysterie zu halten und das Überlaufen der Armee zum Volk glaubhaft zu machen, wurden die Heckenschützenterroristen und ausländischen Agenten erfunden. Bei Straßenschießereien brachten sich die Revolutionäre gegenseitig um. Die prominentesten Handlanger des Diktators wurden verhaftet, während die weniger bekannten sich reorganisierten und die Macht übernahmen.

Das Elend der Spekulationen, die Obsession, mit der die Gegner des Staatspräsidenten an ein ausgeklügeltes Szenario glauben, erklärt sich neben dem Schweigen der Machthaber auch damit, daß die Komission in ihrer Arbeit massiv behindert wurde. Sie verfügt nur über geringe finanzielle und technische Mittel; Ministerien und staatliche Institutionen haben die Zusammenarbeit blockiert. Zahlreiche Zeugen erschienen nicht oder zögerten ihr Erscheinen hinaus, Dutzende andere verstarben, verübten Selbstmord oder kamen auf rätselhafte Weise um. Der letzte Fall war Ende April jener Pilot, der bei der Flucht des Diktators am 22. Dezember 1989 dessen Hubschrauber flog. Er berichtete der Komission von einem Dokumentenkoffer, den der Diktator auf der Flucht bei sich hatte. Einen Tag nach seiner Aussage und kurz vor einer neuen Vernehmung stürzte er bei einem Flug ab. Die Ursachen sind ungeklärt.

Unter solchen Umständen ist trotz fast fünfjähriger Arbeit kaum zu erwarten, daß der Abschlußbericht der Kommission neue Erkenntnisse enthält oder gar Verantwortliche benennt. Dennoch hat Gabrielescu im Parlament darum ersucht, daß die Frist für seine Fertigstellung, die am 31. Dezember 1995 abgelaufen ist, verlängert wird, damit weitere Zeugen verhört werden können.

Ob die Kommission weiterarbeitet oder nicht – für manche, wie den Regisseur des Filmes „Die Sachlage“, Stere Gulea, spielt das kaum noch eine Rolle. „Die Spuren sind verwischt“, sagt er. Für ihn zählt heute das Ergebnis des Dezember 1989 – die „große Leistung“ des Regimes Iliescu: „Psychologisch hat der Präsident ganze Kategorien von Leuten, die Instrumente der Repression waren, rehabilitiert und wiederversichert.“