Geknipste Dutzendware

■ Gespenstische Zeitzeugnisse im Nationalmuseum Warschau: Teilnahmslos hat ein deutscher Besatzungssoldat die Stadt in den Jahren 1940-1941 fotografiert

Das Todesurteil fiel am 21. September 1944. Warschau, auch „Paris des Ostens“ genannt, sollte auf Befehl von Heinrich Himmler, Reichsführer SS, dem Erdboden gleichgemacht werden. Das Ghetto hatten die Nazis bereits nach dem Aufstand 1943 in die Luft gejagt. Jetzt – nach dem Warschauer Aufstand – teilten sie die Stadtmitte in 86 Sektoren ein, verminten sie systematisch und zündeten tausendfach die Dynamitladungen. Die Denkmäler von Mickiewicz und Kopernikus, das Brühlsche Palais, das königliche Schloß, der moderne Hauptbahnhof wurden in Stücke gerissen. Als die Rote Armee, die während des ganzen Aufstandes auf der anderen Weichselseite gestanden hatte, die Stadt endlich „befreite“, marschierte sie in eine menschenleere Trümmerwüste ein.

Hans Joachim Gerke wurde im Januar 1940, wenige Monate nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, zur Luftwaffe eingezogen. Einen Monat später war der 24jährige Hannoveraner zum ersten Mal in Warschau. Er wurde dem Kraftfahrzeugkorps zugeteilt, fuhr regelmäßig mit dem Lastwagen durch die Stadt und – fotografierte. Den jungen Mann, so zumindest erklärte es der Fotograf fünfzig Jahre später, „faszinierte das Landschaftsbild der zerstörten Stadt“.

Doch der Gang durch die jetzt in Warschau präsentierte Ausstellung seiner Aufnahmen vermittelt weder die „Faszination des Bösen“ noch den Hauch einer Ahnung vom Besatzungsalltag. An den Wänden hängt geknipste Dutzendware von einem bildungsbeflissenen Amateurfotografen, der durch das halbzerstörte Warschau schlenderte, mal hier, mal dort stehenblieb und auf den Auslöser drückte. Daß Gerke in erster Linie „Architektur und Kulturgeschichte“ interessierte, glaubt man ihm aufs Wort. Auf den Bildern sind vor allem Ruinen und Trümmer zu sehen, ausgebrannte Häuser, Straßenkrater und halbzerstörte Schlösser und Patrizierhäuser. Menschen fotografierte Gerke meist von hinten: verstümmelte Kinder, zerlumpte Bettler, obdachlose Frauen. Doch eigentlich sind sie nur Staffage für die malerisch apokalyptisch wirkenden Ruinen.

Die Scheu des Fotografen vor den Gesichtern ist verständlich: Die Kamera in der Hand des Besatzers war ein Privileg. Den Polen war der Besitz eines Fotoapparates streng verboten. Wer heimlich fotografierte, wußte, daß er sich in Gefahr begab, deportiert zu werden. Umgekehrt konnte auch das Fotografiertwerden lebensgefährlich sein. Am sichersten war eine ängstlich fragende oder gleichgültige Miene. Und so wirken die wenigen Porträts Gerkes wie gefrorene Masken der Angst und Teilnahmslosigkeit.

In den Jahren 1940 und 1941 war Warschau zwar bereits zu dreißig Prozent zerstört. Für die Besatzer galt Warschau dennoch weiterhin als das „Pulverfaß des Generalgouvernements“. Hier saß die Untergrundregierung, die den Widerstand im Lande organisierte, Untergrundzeitungen informierten über fast jeden Schritt der Besatzer, hohe Nazifunktionäre mußten täglich mit einem Anschlag oder Sabotageakt rechnen. Die Deutschen haßten und fürchteten Warschau. Sie zwangen die Juden ins Ghetto, zogen eine Mauer darum, erklärten es zum Seuchengebiet und bekamen dann selbst Angst vor den Krankheiten. Gerke hat das entweder nicht gesehen, nicht sehen wollen oder eine späte Selbstzensur vorgenommen. Denn die Bilder, die er dem Warschauer Nationalmuseum geschenkt hat, machen nur einen geringen Teil der eigentlichen Sammlung aus. Es sind gerade mal 500 von 5.000. Gerke war 1940 bis 1941 und wieder im Jahre 1944 bei Warschau stationiert.

Die endgültige Zerstörung Warschaus hat er nicht mehr fotografiert. Schon in den ersten Kriegsjahren gibt es kaum Deutsche oder Juden auf seinen Bildern. Und wenn, dann sind die Aufnahmen konventionell, banal: Deutsche Soldaten paradieren vor dem Brühlschen Palais; ein Jude trägt ein dickes Brot nach Hause; deutsche, polnische und jüdische Polizisten regeln den Verkehr. Ist Gerke 1944 wirklich nicht ein Mal nach Warschau gefahren, hat er keine Bilder vom gesprengten Ghetto gemacht? Hat er kein einziges SS-Todesplakat gesehen und fotografiert? Andere Soldaten, so etwa Joe Heydecker, drangen nach dem Warschauer Aufstand in die Totenstadt vor und hielten die gespenstische und menschenleere Ödnis auf Fotos fest. Was ist mit den anderen 4.500 Bildern, die Gerke für „uninteressant“ hält? Gerke fürchtete zu Beginn des Ausstellungsprojektes, daß seine Bilder in Polen „antideutsch“ interpretiert werden könnten. Ist die Auswahl der Bilder deshalb so harmlos ausgefallen?

Von Interesse sind die Fotos eigentlich nur für Warschauer, die ihren Kindern und Enkeln die Stadt kurz vor der endgültigen Zerstörung zeigen wollen. Doch die Warschauer haben derzeit andere Sorgen: Bisher fanden nur 1.500 Besucher den Weg ins Nationalmuseum. Dafür aber soll die von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gesponserte Ausstellung jetzt auch nach Deutschland kommen. Fragt sich nur, wer in Hannover, Bonn, Hamburg oder Düsseldorf Interesse an den Bildern einer halbzerstörten Stadt im Jahre 1940/41 hat. Sinnvoller wäre eine Fotoausstellung „Warschau 1939 bis 1945“, die die Hauptstadt Polens im Glanz der letzten Sommertage vor dem September 1939 zeigen würde, dann die ersten Zerstörungen, das Ghetto, den Warschauer Aufstand, die totale Vernichtung, schließlich die zaghafte Rückkehr des Lebens in die tote Stadt. Gabriele Lesser

Bis 12. 2. im Nationalmuseum Warschau (Zweigstelle Xawery Dunikowski Museum Krlikarnia). Der Katalog kostet 25 Zloty (etwa 14,80 DM – später in Deutschland wahrscheinlich 50 bis 60 DM); aufwendig gestaltet, die dt. Übersetzung ist allerdings ein Graus.