Mörderische Gewalt des freien Worts?

Brauchen wir angesichts rechtsradikaler Hetze Gesetze gegen „geistige Gewalt“? Kann das freie Wort „mörderisch“ werden? Eine Antwort auf Michel Friedmans Äußerungen über Meinungsfreiheit und antisemitische Propaganda  ■ Von Horst Meier

Der Rechtsstreit um den Begriff „Auschwitzmythos“, der nach zwei Freisprüchen die dritte Instanz beschäftigt, wirft ein grundsätzliches Problem auf: die Frage, inwieweit antisemitisch eingefärbte Äußerungen unter dem Schutz der Meinungsfreiheit stehen. Ja, der Meinungsfreiheit. Kein angenehmer Gedanke, diese Leute könnten sich zu allem Überdruß auch noch auf unser schönes Grundgesetz berufen, nicht wahr?

I.

Die Meinungsfreiheit ist „das schlechthin konstituierende Element“ der Demokratie, sagt das Verfassungsgericht seit den Anfängen seiner Rechtsprechung – bis hin zu den jüngsten „Soldaten sind Mörder“-Entscheidungen, bei denen übrigens auch um die Frage der „Volksverhetzung“ prozessiert wird. Freilich mit einem kleinen Unterschied: Im Konflikt zwischen Pazifisten und der Staatsgewalt läßt sich leichter eine Lanze für die Meinungsfreiheit brechen.

Grundrechtsgarantien sind vor allem Minderheitenrecht. Indessen zeigt das verdruckste antisemitische Geschwafel, daß es Minderheiten gibt, die uns weder sympathisch sind noch gar als schützenswert erscheinen. Niemand denkt beim Minderheitenschutz gern an den politischen Gegner. Aus diesem Grund steht die Debatte über die mehr oder weniger offene Auschwitzleugnung ganz im Zeichen der Empörung, wird jedoch selten um Meinungsfreiheit oder Zensur geführt. Das rührt an Fragen, die im Land der Täter niemand unbefangen diskutiert.

Michel Friedman hat allen Anlaß, sich persönlich betroffen und provoziert zu fühlen, wenn Antisemiten über Spielbergs Holocaust- Film schwadronieren: Die Namen seiner Eltern standen auf Oskar Schindlers Liste. Friedman, 1956 in Paris geboren, arbeitet heute als Rechtsanwalt in Frankfurt am Main. Er ist politisch aktiv – im Vorstand des Zentralrats der Juden und im Bundesvorstand der CDU. Seine Partei dürfte sich glücklich schätzen, hätte sie mehr solche Talente. Michel Friedman ist ein glänzender Redner, der jede Podiumsdiskussion belebt. Mit Blick auf rechtsradikale Agitatoren spricht er von „geistiger Gewalt“, von der „Gewalt des Wortes“. Und er warnt beschwörend vor jenen, „die bewußt mit der Kraft und der Macht des Wortes die Hand anderer lenken“. Während einer Diskussion über den ersten Freispruch in Sachen Auschwitzmythos brachte er seine Position auf die Formel: „Das freie Wort kann mörderisch werden.“ Warnungen wie diese haben Gewicht, zumal der Politiker und Jurist Friedman stets auch als Angehöriger der jüdischen Minderheit spricht. Einer Minderheit, deren Sorgen hierzulande ein offenes Ohr und Sensibilität erwarten können. Aber: Kann das freie Wort wirklich mörderisch werden?

II.

Für sich genommen können Worte ebensowenig töten wie Blicke. Die These zielt also, recht verstanden, auf eine gefährliche Wirkung, die die öffentliche Rede hervorruft. Doch worin könnte die liegen?

Es gibt nur wenige Formen der öffentlichen Rede, die auf direkte Weise Unheil hervorrufen. Ein klassisches Beispiel sind die Fälle von Lynchjustiz: Eine aufgebrachte Menge wird von Rassisten dazu angestachelt, einen schwarzhäutigen Verdächtigen kurzerhand zu hängen: „Da habt ihr ihn, den Mörder!“ In der Sprache des Strafrechts nennt man das Anstiftung zu Mord und Totschlag oder, wenn die Sache gerade noch einmal glimpflich abgeht, „öffentliche Aufforderung zu Straftaten“. Rede und provozierte Tat lassen sich hier klar aufeinander beziehen. Das ist allerdings die seltene Ausnahme. Im Bereich der politischen Propaganda ist die Sache komplizierter, weil die Wirkungszusammenhänge sehr viel schwerer zu bestimmen sind: Nehmen wir den Fall eines Agitators, der in

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der gespannten Atmosphäre von Rassenunruhen eine Bürgerwehr dazu auffordert, ihr Stadtviertel vor dem „Niggergesindel“ zu schützen. Kann er wegen Körperverletzung zur Verantwortung gezogen werden, wenn seine Gefolgsleute kurz darauf einen Bus stoppen und schwarze Fahrgäste mißhandeln?

Wohl kaum. Das habe er seinen Leuten ja nicht gesagt, wird sich der Mann verteidigen. Oft läßt sich eben die gefährliche Fernwirkung aufputschender Reden nicht sicher nachweisen und einer bestimmten Person zurechnen. Der Gesetzgeber ist deshalb dazu übergegangen, allgemein formulierte Verbote aufzustellen. Sie sollen einer atmosphärischen Emotionalisierung, einer aggressiven Aufladung der Stimmung entgegenwirken. Man bezeichnet sie deshalb als „Klimadelikte“. Wer in einer Versammlung dazu aufruft, „unsere schöne Stadt endlich von diesen jüdischen Schiebern zu säubern“, stachelt zum Rassenhaß auf und muß mit Strafe rechnen. Auch dann, wenn er bei seinen Zuhörern keine mobilisierende Wirkung erzielt. Schon das Schüren einer Pogromstimmung genügt. Weil diese sich auf unkalkulierbare Weise entladen kann, stellt sie erfahrungsgemäß eine latente Gefahr für Minderheiten dar.

Es ist freilich schwer, diffusen Gefahren präzise zu begegnen. Der Gesetzgeber versucht es mit abstrakten „Gefährdungsdelikten“, deren Formulierungen so vage klingen wie ihre Aufgabe: sollen sie doch eine Vergiftung des politischen Klimas verhindern. Die „Volksverhetzung“ ist ein gutes Beispiel dafür. Indem sie Hetze verbietet, die „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“, muß dieses Rechtsgut nicht einmal konkret gefährdet sein, was ohnehin schwer zu messen ist. Es genügt die rein abstrakte Möglichkeit einer solchen Gefährdung. Wobei am Ende schon der anstößige Inhalt einer Äußerung als „geeignet“ betrachtet werden kann, den „öffentlichen Frieden“ zu stören.

Man sieht: Zwischen der Anstiftung zur Lynchjustiz und der abstrakten Störung des „öffentlichen Friedens“ liegt ein weites Feld. In der Politik haben wir es nur ausnahmsweise mit verbalen Ausfällen zu tun, die handgreifliche, womöglich „mörderische“ Taten provozieren. Die eigentlichen Probleme stellen sich in einer Grauzone, da, wo menschenverachtender Ungeist in materielle Gewalt umzuschlagen droht. Deshalb wurde der Minderheitenschutz als Prävention, gleichsam als Gefahrenvorsorge ausgeformt. Strafgesetze, die diesem Schutz dienen, sind nicht unproblematisch, weil sie notwendigerweise vage gehalten sind. Sie knebeln aber nicht das freie Wort. Sie zählen noch zu den „allgemeinen Gesetzen“, die die Meinungsfreiheit des Art. 5 in der Verfassung beschränken. Die Meinungsfreiheit ist eben nicht für schlechthin jede Äußerung garantiert. Anders gesagt: Wer rassistische oder antisemitische Hetze betreibt, übt kein Grundrecht aus.

Das „freie Wort“ selbst kann daher nicht „mörderisch“ sein – weil der Aufruf zu Lynchjustiz und Gewalt, weil Haßtiraden gar nicht unter dem Schutz der Meinungsfreiheit stehen. Da, wo das freie Wort in Hetze übergeht, ist es keine freie Meinungsäußerung mehr, sondern verkommt zur üblen Stimmungsmache. Erst diese entfaltet eine gefährliche, am Ende womöglich mörderische Wirkung. Soweit aber die Redefreiheit von der Verfassung geschützt ist, kann sie nicht „mörderisch“ wirken. Selbst dann nicht, wenn uns das freie Wort als minderheitenfeindliches, vorurteilsbeladenes, widerwärtiges Geschwafel entgegenschlägt. Ressentiments sind ein politisches Ärgernis, kein Fall für den Staatsanwalt.

III.

Wie fragwürdig und irreführend die These vom mörderischen freien Wort ist, zeigt die Diskussion um die Leugnung des Holocaust. Die schlichte Einsicht, daß bestimmte Formen der Propaganda gefährlich sind, ist ja gar nicht umstritten. Nur besagt sie im konkreten Fall nichts darüber, wo denn vernünftigerweise die Grenze gezogen werden soll zwischen Redefreiheit und Haßpropaganda, zum Beispiel bei der Volksverhetzung: Welche Abwandlungen der sogenannten Auschwitzlüge sollen strafbar sein? Wer augenblicklichen Stimmungen nachgibt und „Klimadelikte“ verschärft, läuft Gefahr, die Meinungsfreiheit zu verkürzen. Man sollte im Auge behalten, daß über die Strafbarkeit von Äußerungsdelikten oftmals sprachliche Nuancen entscheiden.

Von solchen Bedenken war jene Allparteienkoalition des Bundestags weit entfernt, die am Ende einer hektisch-nervösen Debatte, kurz nach dem ersten Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge, eine Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen beschloß. So ist also seit Dezember 1994 ausdrücklich mit Strafe bedroht, wer den nationalsozialistischen Völkermord „billigt, leugnet oder verharmlost“. Dabei war die glatte Leugnung des Holocaust bereits strafbar: als Kollektivbeleidigung oder, in besonders krassen Fällen, als Volksverhetzung. Wenn nun auch noch ein vages „Verharmlosen“ kriminalisiert werden soll, läuft das darauf hinaus, eine bestimmte Lesart der deutschen NS- Geschichte und ihrer vorbildlichen „Bewältigung“ staatlich zu erzwingen: Ein hilfloser Versuch, den Historikerstreit mit juristischen Mitteln autoritativ zu entscheiden. Mit Minderheitenschutz hat das nichts mehr zu tun.

Michel Friedman hat recht: Demokratische Ideale lassen sich leicht predigen, wenn man den sicheren Schutz der Mehrheit genießt. Die Meinungsfreiheit bleibt aber ein sachlicher Einwand gegen undifferenzierte Rufe nach der Staatsgewalt. Hierzulande ist viel von den Gefahren, zuwenig aber von der klärenden und aufklärenden Wirkung der ungehemmten öffentlichen Debatte zu hören. Der US-amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin schrieb in dieser Zeitung (taz vom 17. 6. 95) mit Blick auf das Prinzip der freien Rede: „Anständige Leute werden ungeduldig mit abstrakten Prinzipien, wenn sie Rowdys mit Pseudo- hakenkreuzen sehen, die behaupten, daß der ungeheuerlichste Völkermord eine Erfindung seiner Opfer sei.“ Trotzdem empfiehlt er eine prinzipienfeste, eine liberale, eine demokratisch selbstbewußte Antwort. Denn jene Rowdys „erinnern uns an etwas“, sagt Dworkin, „das wir oft vergessen: den hohen, manchmal fast unerträglichen Preis der Freiheit“.

Das freie Wort, es mag aufreizend töricht und bis zur Schmerzgrenze abstoßend wirken, das freie Wort kann nicht „mörderisch“ werden. Es ist das Lebenselixier der Demokratie. Die allerdings gibt es nicht ohne das Riskiko, das politische Freiheit in sich birgt. Minderheitenschutz ist notwendig. Wer jedoch in seinem Namen versucht, das Risiko der Freiheit zu vermeiden, macht Zensur gesellschaftsfähig.

Zensur aber zerstört bekanntlich das freie Wort. Das könnte unseren Antisemiten so passen.

Horst Meier, Jurist und Autor, lebt in Hamburg