Schriften zu Zeitschriften
: Thema verzweifelt gefunden

■ „Der Spiegel“ und „Le Nouvel Observateur“ suchen die „neue Bisexualität“

Regelmäßig bringt Der Spiegel Titelgeschichten zum Thema Sexualität. Anfang letzter Woche war es wieder soweit. Vom Cover starrte die Schlagzeile: „Bisexuell – Die Verwirrung der Geschlechter“. Weiter wäre das nichts Besonderes, hätte nicht das französische Nachrichtenmagazin Le Nouvel Observateur diese Woche mit dem gleichen Thema aufgemacht: „Bisexualität – Das letzte Tabu“.

Beide Zeitschriften verwenden für ihre Cover Schwarzweißfotografien. Auf dem Spiegel-Cover sind zwei kaum bekleidete Frauen zu sehen, auf dem des Nouvel Observateur eine unbekleidete. In beiden Fällen illustriert also Frauenhaut das Thema. Nackte Brust sieht man in beiden Fällen dennoch nicht. In Parallelaktion hat man zu dem Mittel gegriffen, die Lippen rot einzufärben.

Diese seltsame Übereinstimmung in Thema und Gestaltung könnte einen zunächst vermuten lassen, die Pariser hätten bei den Hamburgern abgeschrieben. Doch vieles spricht dafür, daß die Titelgeschichten unabhängig voneinander gemacht worden sind: Diejenigen Wissenschaftler, die im Nouvel Observateur zu Wort kommen – ein Psychoanalytiker, ein Biologe, eine Anthropologin, ein Soziologe und ein Archäologe –, müssen schon vor längerem um ihre Beiträge gebeten worden sein; auch Niki de Saint-Phalle kann seine extra für diese Titelgeschichte hergestellte Zeichnung nicht von einem Tag auf den anderen geliefert haben. Der Spiegel hatte auf Beiträge von Wissenschaftlern und Künstlern verzichtet.

Das ist der Trend jetzt

Den aktuellen Anlaß sehen beide Zeitschriften darin, daß Bisexualität eine neue Mode sei, eine neue Bewegung und neue Identität, populär vor allem in den USA. Auch in Deutschland fasse die „Bi-Bewegung“ Fuß, berichtet der Spiegel, in Frankreich lebten die Bisexuellen nach wie vor versteckt, der Nouvel Observateur. Das Thema Aids wird im Nouvel Observateur überhaupt nicht, im Spiegel nur am Rande – im Interview mit Wolfgang Joop – ins Spiel gebracht. Auf die Frage: „Bisexuelle sind besonders angegriffen worden, weil sie angeblich das HIV-Virus zu den Heterosexuellen tragen“, antwortet der Hamburger Modemacher: „Quatsch. Ungeschützter Sex verbreitet das Virus, nicht Bisexualität.“ Der Vater zweier Kinder läßt es sich gefallen, als bisexuell bezeichnet zu werden, weil er neben seiner Ehe auch sexuelle Erfahrungen mit Männern gemacht hat (und das auch gerne erzählt). Er ist der Bürge der Spiegel-Geschichte, der bezeugt, daß es das gibt: Bisexualität. (Daß das Magazin nicht Karl Lagerfeld oder Jil Sander gefragt hat, nimmt er als Kompliment.)

Auch im Nouvel Observateur kommt eine Betroffene zu Wort, doch anonym. Einer knapp 40jährigen Frau werden von einer Journalistin jene Worte nachformuliert, die demonstrieren sollen, daß es ganz furchtbar ist, bisexuell zu sein. Zwei Beispiele für zwei Sichtweisen: Das deutsche Magazin führt den glücklichen, reichen, metropolitanen Joop vor („Es hat mir sehr viel über mich mitgeteilt“), das französische die unglückliche Bürgerin, die mit einem stämmigen Busfahrer verheiratet war und bei Männern nicht die gleiche „Sensibilität“ findet wie bei Frauen.

Die in bezug auf das Thema offenkundig entnervten Spiegel- Redakteure („Jetzt also soll bi supergeil sein“) legen eine Anzüglichkeit an den Tag, die geschmacklos ist und wohl auch sein soll. Nichts unterscheidet ihre Wortwahl von der Boulevardpresse, wenn sie mit wegwerfender Geste von „Sexforschern“ reden; um im übrigen kurz darauf fast triumphierend Erfahrungen von Therapeuten zu referieren: Bisexuelle seien in der Regel depressiv und isoliert.

Unfähig zu lieben?

Daß sie schlecht informiert seien, kann man den Spiegel-Redakteuren nicht vorwerfen; daß sie ihre Bildung nicht sortiert haben, schon. Hätten sie es getan, hätten sie feststellen müssen, daß die Sachverhalte Homosexualität, Androgynität, Transvestismus, Transsexualismus und Bisexualität nicht unbedingt identisch sind. Fragen des Lebensstils und Körpergefühls – und genau darum geht es, wenn sich eine gewisse gesellschaftliche Gruppe mit dem Begriff Bisexualität schmückt – werden im Schnellverfahren zum „Bi-Sex“-Thema umgemodelt: „Reihenweise bekennen sich Prominente, von David Bowie und Grace Jones bis zu Helmut Berger, zu ihrer sexuellen Doppelbegabung. Androgyne Models wie die magere Kate Moss wirken auf Frauen wie Männer, auf Schwule und Lesben gleichermaßen erotisierend.“ Am Ende bleiben nur zwei Ressentiments:

1. Bisexualität deutet auf die Unfähigkeit zu lieben hin.

2. Bisexualität ist ein Schickimickiphänomen.

Die Frage des Lebensgefühls mag im Land des Libertinismus grundsätzlich nicht so brennend sein wie in Deutschland, jedenfalls kommt sie in der Titelgeschichte nicht vor. Der Nouvel Observateur hat sich dazu entschlossen, die Beantwortung der Frage, was Bisexualität sei, bei wem und seit wann sie auftrete, an Experten zu delegieren. Und diese interessieren sich für Ratten, für die alten Griechen, für innere Konflikte, für Marokkaner, Eskimos und die Einwohner Neuguineas. Journalistisch gesehen ist das zweifellos die elegantere Vermeidung des Themas. Ina Hartwig