Schlammiges Schicksal

Regen in Rio schwemmt Slumsiedler weg. Sie sind selber schuld, schimpft die Stadt  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Seit vier Tagen verwüsten sintflutartige Regenfälle die Elendsviertel der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro. Die Wassermassen verwandelten Straßen in reißende Flüsse; Autos, Müll, Abwasser und Bauschutt wurden von der Strömung mitgerissen und bildeten Lawinen aus Schlamm und Schrott. Wasserfälle stürzten von den Bergen herab und begruben die Bewohner der Holzhütten, die an den Hügeln kleben, lebendigen Leibes. Bis zum Donnerstag abend wurden 61 Leichen geborgen. Alle Todesopfer stammen aus Elendsvierteln. Schätzungsweise 2.000 Menschen sind obdachlos.

Rios Bürgermeister Cesar Maia befand jedoch nach einem Rundflug über die Stadt, daß das Ausmaß der Schäden im Vergleich zu den Wasserergüssen „relativ gering“ sei. „Statt Katastrophen vorzubeugen, beschränkt sich die Stadtverwaltung darauf, Leichen einzusammeln“, kritisierte die Tageszeitung Jornal do Brasil die Gleichgültigkeit der Obrigkeit gegenüber den Opfern der Überschwemmung. Die sechs Millionen Einwohner Rios könnten sich nicht einmal im Katastrophenfall auf die schnelle Hilfe der Stadtverwaltung verlassen.

Während in Rio die stärksten Regenfälle seit 74 Jahren niederprasselten, ließ sich Bürgermeister Cesar Maia im US-amerikanischen Atlanta die Vorbereitungen für die Olympischen Sommerspiele erklären. Erst Mittwoch nacht landete er wieder an der heimatlichen Copacabana. Auch Landesvater Marcello Alencar, der noch in der vergangenen Woche aus Sorge um Rios guten Ruf dem Popstar Michael Jackson die Produktion eines Videos über das Favela-Elend verbieten wollte, ließ die Bevölkerung im Regen stehen: Er flog am Donnerstag zu Verhandlungen mit der Weltbank nach Washington.

So begannen die Slumbewohner, sich alleine auf die Suche nach ihren vermißten Verwandten zu machen. In der Favela „Sitio do Pai Joao“ wurden zwanzig Einwohner unter den Trümmern ihrer Hütten begraben. „Was soll ich sagen? Es gibt keinen Grund, auch nur ein einziges Wort zu verschwenden“, meint Robson de Aguiar verzweifelt. Der 22jährige verlor seine Mutter, seine vier Brüder, seine Frau und sein zehn Monate altes Baby Lucas. „Die Leute denken, daß Favela-Bewohner Bettler sind, deswegen helfen sie nicht“, empört sich eine Frau, die „Cida“ genannt werden will.

In den Augen der Behörden sind die Slumbewohner allerdings selber schuld. „Die Berghänge sind nicht nur ein Risikogebiet, sie stehen auch unter Naturschutz“, sagt Rios Baudezernent Luis Paulo Conde. „Wir haben die Leute gewarnt.“ Er beschuldigt die Landesregierung, der die Polizei untersteht, die von ihr angestrebten Räumungen von Risikogebieten nicht zu vollstrecken. In den letzten vier Jahren siedelte Rios Stadtverwaltung nach eigenen Angaben knapp 10.000 Menschen aus Risikogebieten um. Weitere 8.000 sollen in diesem Jahr hinzukommen.

Maria Luiza Carlos, Vorsitzende der Anwohnervereinigung der Favela „Rocinha“, räumt ein, daß einige Leute „wirklich undiszipliniert sind und sich ausgerechnet in den Gefahrenzonen niederlassen“. Im ärmsten Teil Rocinhas, genannt „Roupa Suja“ (Schmutzige Wäsche) wurden am Dienstag drei Babies verschüttet. Die Holzlatten der zerstörten Hütten stürzten auf einen Tunneleingang unter der Favela herab und versperrten eine Hauptverkehrsstraße.

„Trotz Katastrophen ist es auch in der schlimmsten Favela in der Stadt immer noch besser als auf dem Land, wo es überhaupt keine Arbeit gibt“, meint Baudezernent Conde. „Das ist eine Spirale ohne Ende: Je mehr Sozialwohnungen wir bauen, desto mehr Leute kommen.“

Wie die alljährlichen tropischen Regengüsse scheint somit auch die öffentliche Empörung zum Ritual zu verkommen. Brasiliens bekannter Dichter und Diplomat Vinicius de Moraes schrieb bereits 1966: „Geh und begrabe Deine Toten. Räum den Schutt weg und baue eine neue Hütte im Schlamm, fang Dein Leben aus Musik und Misere von vorne an. Trink Zuckerrohrschnaps und tanze Samba. Bald kommt der Karneval und Du kannst Dein schlammiges Schicksal für drei Tage vergessen...“