Die Juden haben gefälligst gut zu sein

Die zahllosen Gedenk- und Nostalgiefeiern zu Ehren der ermordeten Juden sind ein schlecht inszeniertes Gedächtnistheater und verlogen dazu. So Michal Bodemann in seinem diese Woche erscheinenden Buch. Angeschaut hat es sich  ■ Rafael Seligmann

Was ist relativ? Wenn man mit der einen Arschbacke auf der Herdplatte sitzt, während die andere im Tiefkühlfach hängt, dann geht's einem, zumindest statistisch, relativ gut. Michal Bodemanns „Gedächtnistheater: Die Jüdische Gemeinde und ihre deutsche Erfindung“ ist ein gutes Buch. Jedenfalls in Relation zur Unmenge von Publikationen, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem deutschen Judentum auseinandersetzen. Meist auf die eine!

Das sind die, die alles Jüdische vermeintlich bejubeln und dabei die real existierenden Juden wegen ihrer Komplexität am liebsten vergessen möchten. Die Juden haben gefälligst gut zu sein. Darum sind die Bücher, die so über sie geschrieben werden, schlecht. Dies kann man Michal Bodemann nicht vorwerfen. Er weiß, worüber er schreibt.

Bodemanns „Gedächtnistheater“ ist ein wichtiges Buch. Es läßt judenfeindliche und philosemitische Klischees, die sich in verblüffender Weise ähneln, beiseite und konzentriert sich auf das deutsch- jüdische Verhältnis. Wissenschaftlich, manchmal allzu wissenschaftlich – das ist, wie wir später zeigen werden, eine Schwäche.

Das entscheidende Verdienst des Buches ist, deutlich wie nie zuvor aufzuzeigen, daß die zahllosen Gedächtnis-, Gedenk-, Trauer- und Nostalgiefeiern, die in Deutschland vermeintlich zur Ehre „jüdischer Mitbürger“ abgehalten werden, Schmierentheater sind. Die Deutschen versuchen mit ihrer Geschichte ins reine zu kommen. So drängt sich nach jahrzehntelangem Verdrängen und Verschweigen unwillkürlich der kollektive Judenmord ins Bewußtsein.

Doch das deutsche Gedächtnistheaterstück ist schlecht inszeniert und obendrein verlogen. Dies beginnt bereits mit dem Datum. Der Autor weist am Beispiel der „Reichskristallnacht“ – später „Pogromnachtfeier“ nach, daß der Schwerpunkt der Ausschreitungen am 10. November stattfand. Aber weil der 9. November schon davor (1918 und 1923) als deutscher Schicksalstag galt, wird das Judenpogrom des November 1938 auch auf diesen Tag gepackt.

In dieser deutschen Inszenierung fällt den Juden lediglich die Rolle des Büttels zu. So ist Bodemanns Zorn auch gegen Michael Wolffsohn, Professor an der Bundeswehruniversität in München, zu verstehen. Dieser „deutsch-jüdische Patriot“ von eigenen Gnaden muß sich allmählich eine Unterschriftmaschine zulegen, um alle Persilscheine zu signieren, die er den guten Deutschen und ihrer Demokratie ausschreibt.

Die Deutschen, meint Bodemann, huldigen nur den „ordentlichen“ deutschen jüdischen Opfern. Er nennt jedoch kaum Beispiele. Dabei sticht etwa die gegenwärtige Nostalgie um den Dresdner Victor Klemperer ins Auge. Klemperer oszillierte vom Judentum zum Christentum, wie es ihm gerade opportun schien – kerndeutsch blieb er allemal. Im Zweiten Weltkrieg wandelte Klemperer durch seine Heimatstadt Dresden und konnte beim besten Willen keine Antisemiten erkennen. Sein Platz war in Deutschland, nicht in Zion, bekannte er. Und selbst nach dem Krieg sah der deutsche Patriot als schlimmste Ausgeburt der Nazidiktatur jenen Tag an, an dem er den Judenstern anlegen mußte. Kein Wunder, daß Martin Walser und unzählige gutmeinende Deutsche diesen jüdischen Mitbürger, der nach eigenem Bekenntnis gar keiner war, zum Idol stilisieren.

Das Buch schildert, daß in der DDR ebenso wie in der Bundesrepublik, die Juden vor allem dann wohlgelitten waren, wenn sie die Humanität und Identität des jeweils „eigenen“ Staates priesen. Tragikomisch vor allem in der DDR, die sich ihre Mikrogemeinde fast ausschließlich zu dem Zweck hielt, die erste „antifaschistische deutsche Demokratie“ in einem fort zu preisen.

Bodemann bestätigt Ralph Giordanos Verdikt von der „zweiten (deutschen) Schuld“. Die Verbrechen und vor allem die Verbrecher wurden verschwiegen. Die Opfer als Popanze „ohne inneren Bezug“ „geschäftsmäßig“ gerühmt. Bodemann zeigt dies, indem er die Neujahrsglückwünsche deutscher Politiker von Konrad Adenauer über Franz Josef Strauß, Willy Brandt bis Helmut Kohl seziert. Hier wird deutlich, daß allein die SPD, bereits unter Kurt Schumacher, die Juden nicht mit der Leerformel „Mitbürger“ ins Abseits stellte, sondern als Mitmenschen, als Deutsche, die verfolgt wurden und Solidarität verdienten, ansah.

Die Schwäche des Buches ist, daß Bodemann scharf zwischen Juden und Deutschen trennt. Obwohl er es besser wissen müßte, selektiert er die Juden, die seit mehr als einem Jahrtausend Teil der deutschen Geschichte und Kultur sind, von ihrer Heimat und ihren christlichen oder sonstigen deutschen Mitbürgern. Ein einziges Mal spricht er von Deutschland und „seinen Juden“.

Bodemann begreift die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion als Beitrag zum „Wiederauferblühen“ des deutschen Judentums. Verneint aber eine Renaissance jüdischer Kultur in Deutschland. Seine Angst vor der sich wieder anbahnenden deutsch-jüdischen Liaison macht den Soziologen hier blind. Er übersieht das Aufstreben der jüdischen Kultur in Deutschland.

Seit den achtziger Jahren gibt es wieder eine lebendige jüdische Kultur. Literatur von Irene Dische, Maxim Biller, Robert Schindl und auch meine Romane werden in der deutschen und in der amerikanischen Wissenschaft zur Kenntnis genommen. Sander Gilman, einer der bekanntesten amerikanischen Literaturwissenschaftler, schrieb einen Sammelband „Reemerging Jewish Culture in Germany“. „Life and Literature since 1989“. Elena Lappin setzt sich mit „Jewish Voices, German Words“ auseinander. Unlängst hat die Engländerin Susanne Stern den Sammelband „Speaking out, Jewish Voices from United Germany“ veröffentlicht.

Den Beginn der großangelegten Inszenierung, des deutschen Gedächtnistheaters, setzt Bodemann 1978 an. Warum? Weil da, so der Autor, die Väter- und Tätergeneration durch die Nachgeborenen, die unbelasteten Deutschen, abgelöst worden sei. Denen war es ein Bedürfnis, sich mit den Verbrechen, also vor allem dem Judenmord, zumindest oberflächlich auseinanderzusetzen. Dies stimmt so nicht. Bodemann selbst erwähnt die Hauptprotagonisten der 78er Veranstaltung, Kanzler Helmut Schmidt und Bundespräsident Walter Scheel – beide aktive Offiziere in Hitlers Wehrmacht. Warum brach bei diesen Herren und unzähligen anderen mit einem Mal Betroffenheit über das Schicksal ihrer ermordeten jüdischen Mitbürger aus?

Nicht aus komplexen psychologischen Erwägungen, wie Bodemann meint, sondern weil damals mit der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ weltweit ein oberflächliches Gedächtnistheater einsetzte. Inszeniert haben es vor allem jüdische Organisationen in den USA, denen ihre Schäflein aufgrund von Assimilation von der Judenherde gingen. Starke, emotionale Bindungen waren gefragt. Was einte fester als die Trauer um die ermordeten Mitjuden? Das Konzept war so effektiv, daß es die Menschen in den meisten westlichen Ländern mitriß. Warum? Weil die Wurzeln der Identität bei Juden und Nichtjuden so schwach waren, daß man nach starken Gefühlen suchte – koste es, was es wolle. Seither haben viele dumme Juden die Opferrolle zum Mittelpunkt ihrer eigenen Identität gemacht. Den deutschen Betroffenheitsaposteln gefällt dies, wie sich leicht denken läßt.

Michal Bodemanns „Gedächtnistheater“ ist ein Beispiel für das Erstarken des geistigen Lebens von Juden in Deutschland. Doch der Autor verkriecht sich in ein selbstgewähltes geistiges Ghetto. Der letzte Satz seines Buches lautet: „Es wäre an der Zeit, daß sich die Juden einmal nicht vor Fernsehkameras, sondern in Ruhe und Abgeschiedenheit mit ihrer Rolle in der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen.“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Die deutschen Juden müssen aus ihrer Selbstisolation heraus und sich mit ihren nichtjüdischen Mitbürgern auseinandersetzen. Genauso, wie Michael Bodemann dies mit seinem Buch „Gedächtnistheater“ tut.

Michal Bodemann, „Gedächtnistheater. Die Jüdische Gemeinde und ihre deutsche Erfindung“. Mit einem Beitrag v. Jael Geis. Rotbuch Vlg., Hbg. 96, 211 S., 38 DM