„Nun muß der Arzt seine Unschuld beweisen“

■ Der Patientenanwalt Hans Christ zu Kunstfehlern und neuem Arbeitszeitrecht

taz: Ein Kunstfehler im OP wegen Übermüdung? Bislang kaum nachzuweisen. Aber das neue Arbeitszeitgesetz bringt auch in Haftungsfragen eine neue Dimension. Haben geschädigte Patienten jetzt eine größere Chance, zu ihrem Recht zu kommen?

Hans Christ: Ich denke ja, denn das neue Gesetz erweitert die Liste der vorwerfbaren Behandlungsfehler. Der Arzt macht sich schuldig, wenn er gegen die Arbeitszeitbestimmungen verstößt. Dieser Verstoß kann zu einer Beweislastumkehr führen, das heißt: Nun muß nicht mehr der Patient die Schuld des Arztes beweisen, sondern der Arzt muß beweisen, daß der ihm vorgeworfene Fehler nicht auf Übermüdung zurückzuführen ist.

Ursprünglich geht man also davon aus, daß der Patient dem Arzt den Behandlungsfehler nachweisen muß?

Ja, prinzipiell ist der Patient für den Fehler beweispflichtig – während die Behandlungsseite belegen muß, daß sie ordnungsgemäß über etwaige Risiken der Operation aufgeklärt hat. Klagt ein Patient auf Schadenersatz, kann er also einerseits Aufklärungsmängel geltend machen. Oder er muß einen schuldhaften Behandlungsfehler, den sogenannten Kunstfehler, nachweisen. Gelingt das, muß er zusätzlich beweisen, daß dieser Fehler die Ursache seines Gesundheitsschadens ist. Erst dann kann er Schmerzensgeld, Ersatz für Verdienstausfall, für persönlichen Pflegebedarf und so weiter bekommen.

Wurde schon einmal ein Arzt verurteilt, weil er wegen Übermüdung einen Fehler machte?

In einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1986 wurde die Frage schon einmal thematisiert, ob der übermüdete Arzt haftet. Der Bundesgerichtshof bejahte das damals zwar prinzipiell, gab der Klinik jedoch die Möglichkeit, sich zu entlasten. In dem BGH-Urteil von 1986 (bei einer Hüftgelenksoperation war versehentlich ein Beinnerv durchtrennt worden, Anm. d. Red.) ging der Patient leer aus, weil die Gegenseite beweisen konnte, daß der Fehler nicht auf die Erschöpfung des Arztes zurückzuführen war. Mit dem neuen Gesetz ist so etwas nicht mehr möglich. Der Arzt beziehungsweise der Klinikträger kann sich jetzt nicht mehr entlasten, wenn er übermüdete Ärzte eingesetzt hat. Denn der Verstoß gegen die Arbeitszeitregelung gilt als Beweis dafür, daß er seine Aufsichtspflicht verletzt hat.

Das neue Arbeitszeitgesetz gibt dem geschädigten Patienten, wenn es zu einem Prozeß um Schadenersatz kommt, einen starken Trumpf in die Hand...

Ja, der Tatbestand der Übermüdung ist jetzt schwarz auf weiß nachweisbar. Paragraph 16 des Arbeitszeitgesetzes verpflichtet den Klinikträger, über den Dienstplan hinaus die tatsächlichen Arbeitszeiten seiner Mitarbeiter zu dokumentieren. Vergleichen kann man das mit der Tachoscheibe des Lkw- Fahrers, aus der ebenfalls ersichtlich ist, wann er seine Fahrzeiten überschreitet. Wurden die Arbeitszeiten überschritten, oder liegt gar keine oder nur eine lückenhafte Dokumentation vor, führt das – wie beim sogenannten „groben Behandlungsfehler“ – dazu, daß sich die Beweislast im Verfahren zugunsten des Patienten umdreht.

Haftet nun der behandelnde Arzt oder das Krankenhaus? Solange die Haftpflichtversicherungen zahlen, kann dem Patienten ja egal sein, wer die Verantwortung trägt. Falls die Gesellschaften jedoch künftig passen, wird es ihn interessieren, woher er sein Geld bekommt.

Grundsätzlich geht man davon aus, daß Haftungsansprüche sich gegen den Klinikträger richten. Bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz sind allerdings meines Erachtens sowohl der Klinikträger als auch der Arzt persönlich verantwortlich: Die Klinik muß sich ein Organisationsverschulden anlasten. Denn sie wäre verpflichtet, für den Patienten einen ausgeruhten und voll konzentrationsfähigen Arzt bereitzuhalten. Genauso wie sie dafür sorgen muß, daß das medizinische Gerät einwandfrei funktioniert. Der Arzt muß sich beim Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz ein Übernahmeverschulden vorwerfen lassen. Denn er muß eigenverantwortlich überprüfen, ob er in erschöpftem Zustand seinen Dienst überhaupt antreten kann, ob er seiner verantwortungsvollen Tätigkeit nachgehen kann.

Interview: Annette Wagner