Ein Nerv durchgetrennt – das ist schnell passiert

An deutschen Krankenhäusern wird alltäglich Recht gebrochen. Die wenigsten Kliniken halten sich an die festgeschriebenen Höchstgrenzen der Arbeitszeit und die Mindestdauer der Pausen – das Risiko trägt der Patient  ■ Von Annette Wagner

Als Assistenzärztin Angelika Tsang um ein Uhr mittags das Kreiskrankenhaus Reutlingen verläßt, hat sie 29 Stunden Dienst hinter sich – und genau eine Stunde Ruhepause. Ihre Tagschicht ging lückenlos in den sogenannten Bereitschaftsdienst über, der – wie fast immer in der gynäkologischen Klinik – mit Notfällen und schweren Geburten auf sie wartete. Die vorgeschriebenen fünfeinhalb Stunden Nachtruhe schrumpften auf einen erschöpften Kurzschlaf frühmorgens zwischen sechs und sieben Uhr zusammen. Eigentich vorhersehbar, denn werdende Mütter halten sich nun mal nicht an Dienstpläne. Trotzdem sieht man in Reutlingen am darauffolgenden Tag keinen Ersatz für die übermüdete Bereitschaftsärztin vor, sondern kalkuliert den alltäglichen Gesetzesbruch weiterhin mit ein. Dr. Tsang muß morgens weiterarbeiten. Sie versorgt die Patientinnen ihrer Station, assistiert im Kreißsaal, operiert weitere Notfälle. Bis mittags um eins.

Drei Monate nach Einführung des Arbeitszeitgesetzes an den Krankenhäusern, das die Höchstgrenzen täglicher Arbeitszeiten und die Mindestdauer von Pausen und Ruhezeiten regelt, wird nicht nur im baden-württembergischen Reutlingen weiterhin alltäglich und allnächtlich das Recht gebrochen. An zwei Drittel der 3.500 deutschen Kliniken ignorieren die Verwaltungsdirektoren einer Umfrage des Marburger Bundes, des Berufsverbandes der Klinikärzte, zufolge munter die Bonner Vorgaben – obwohl Bußgelder bis 30.000 Mark und Haftstrafen bis zu einem Jahr drohen.

Als das neue Arbeitszeitgesetz in Kraft trat, bekamen die Kliniken eineinhalb Jahre Aufschub, um spezielle Betriebsvereinbarungen zu entwickeln, die den komplexen Arbeitsabläufen im Krankenhaus gerecht werden. Kaum ein Haus hat die Gnadenfrist genutzt. Die meisten Verwaltungschefs haben bislang nicht mal Ideen für die Umsetzung entwickelt: Wie der Reutlinger Verwaltungsdirektor Rainer Holzherr verweisen viele auf „Auslegungsschwierigkeiten“ des (immerhin seit zwei Jahren bekannten) Gesetzes. Andere erhoffen sich von der nächsten Tarifrunde eine Lockerung der Ruhezeitenregelungen. Wieder andere begnügen sich damit, auf Gesundheitsminister Seehofer zu schimpfen, der sie durch die Deckelung des Krankenhausetats in der Tat vor die schwierige Aufgabe stellt, das Arbeitszeitgesetz kostenneutral umzusetzen.

Mehr Ärzte – das Gesetz wäre umgesetzt

Dabei wäre ein Teil der benötigten neuen Stellen durchaus finanzierbar: Indem man die zahllosen Überstunden in neue Personalstellen umwandelt. Um ein Viertel müßte die Ärzteschaft an deutschen Kliniken nach Ansicht der Tübinger und Reutlinger Klinikpersonalräte aufgestockt werden, um das Arbeitszeitgesetz umzusetzen. Und die Hälfte der benötigten Stellen könnte durch Überstundenabbau geschaffen werden. Weniger Geld, aber dafür mehr Freizeit – und ein Job für einen der 10.000 arbeitslosen Kollegen.

Nicht alle, aber drei Viertel der baden-württembergischen Krankenhausärzte wären laut Marburger Bund zu einem solchen Bündnis für Arbeit bereit. Aber viele haben nicht den Mut, ihre Verwaltung auf diesem Weg zu einer verantwortungsvolleren Dienstplanung zu zwingen. Denn wer aufmüpfig ist, wird vermutlich länger brauchen, bis er seine Facharztpunkte beisammen hat. Oder noch schlimmer: „Viele Ärzte fürchten auch, daß sie ihre befristeten Arbeitsverträge verlieren, wenn sie die tatsächlich anfallenden Überstunden dokumentieren und dafür Bezahlung oder Freizeitausgleich bei der Verwaltung einfordern“, erklärt der Tübinger Anästhesist Michael Schulze.

Seine Assistenzärzte ließen sich indes nicht ins Bockshorn jagen: Sie dokumentierten für 1994 54.000 (!) Überstunden und rechneten ihrem Verwaltungsdirektor vor, daß das 30 neuen Stellen entspreche. Immerhin zehn Stellen wurden daraufhin beim Wissenschaftsministerium beantragt (nach der Landtagswahl erfuhr die überraschte Abteilung allerdings, daß nicht eine einzige bewilligt werde). Die Reutlinger Assistenzärzte kann die Aus-Überstunden- mach-Stellen-Forderung nicht aus der Misere retten. Sie bekommen ihre Mehrarbeit ohnehin nicht vergütet.

Die Ministerin will gegen die Kliniken nicht vorgehen

Es ist die Aufgabe des Sozialministeriums, via Gewerbeaufsichtsamt über die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes zu wachen. In Baden-Württemberg wurde aus dieser Aufsichtsfrage mittlerweile eine Beamtenposse. Die Sozialministerin , die SPD-Frau Helga Solinger, will gegen die (ihrem Wissenschaftskollegen unterstellten) widerspenstigen Unikliniken nicht vorgehen: Schließlich könne ein Ministerium dem anderen kein Bußgeld auferlegen. Aber auch die ihr direkt unterstellten Landes- und Stadtkrankenhäuser läßt sie derzeit nicht kontrollieren. Das Sozialministerium sieht sich ihnen gegenüber „eher in beratender“ Funktion. Und die Gewerbeaufsichtsbeamten sind ohnehin anderweitig ausgelastet: Vergangenes Jahr kontrollierten sie in einer Schwerpunktaktion die Fahrzeiten von Busfahrern. 1996 wollen sie vor allem dafür sorgen, daß übermüdete Tanklastwagenfahrer andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährden. Während der Aufenthalt auf baden-württembergischen Straßen also zunehmend sicherer wird, begibt man sich als Krankenhauspatient weiterhin in die Gefahr, einem übermüdeten Operateur in die Finger zu fallen. Bei der Sterilisation ausgerutscht und den Darm verletzt? Bei der Hüftgelenks-OP den Beinnerv mit durchtrennt? Das ist in der 30. Arbeitsstunde schnell passiert.

Solange niemand die verantwortlichen Ministerien durch eine Anzeige zum Handeln zwingt, werden sie wohl weiter stillhalten. Unterdessen könnte der gesetzeswidrige Arbeitsalltag im Krankenhaus aus einer anderen Perspektive heraus brisant werden. Dr. Angelika Tsang und ihre KollegInnen machen sich Gedanken: „Wir wissen nicht, wer haftet, wenn wir in übermüdetem Zustand einen Fehler machen.“ Sie sorgen sich zu Recht, denn bisher beugten sie lediglich Tarifbestimmungen, wenn sie rund um die Uhr arbeiteten. Jetzt brechen sei ein Gesetz. Eine völlig neue Dimension in Fragen der Haftung, aber auch im strafrechtlichen Bereich. Ob die Haftpflichtversicherungen für Schmerzensgeld und Schadenersatz weiterhin aufkommen, wenn eine Welle von Ansprüchen aufgrund ärztlicher Übermüdung auf sie zurollt, ist fraglich. Patienten- und auch Arztanwälten zufolge ist es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis es hier erste Urteile gibt.

Die großen Krankenhausversicherer, die Münchner Winterthur und die Württembergische Gemeindeversicherung (WGV), die die meisten Kreis- und Stadtkrankenhäuser Baden-Württembergs betreut, winken zwar derzeit noch beruhigend ab. Gleichzeitig läßt man in der Schadensabteilung der WGV jedoch keinen Zweifel daran, daß die Krankenhäuser Probleme bekommen, wenn solche Klagen gehäuft vorkämen. Der erste Schritt, um die säumigen Kliniken zu disziplinieren, wäre dann die Erhöhung der Versicherungsprämien; der zweite, den Versicherungsschutz wegen „fahrlässigen Vorgehens“ ganz zu entziehen. In diesem Sinn rät der Rechtsberater des südwürttembergischen Marburger Bundes, Bernhard Resemann, beunruhigten Ärzten, den Klinikverwaltungen nicht blind zu vertrauen, wenn die versichern, daß jedwede Haftpflichtangelegenheit über die Police in der Klinik abgedeckt sei. Die Reutlinger Assistenzärzte stimmt bedenklich, daß sie von ihrem Verwaltungsdirektor nicht mal verbale Rückendeckung bekommen: Sie baten Anfang März um eine schriftliche Garantie, daß das Krankenhaus für jeden bei Verstoß gegen das Arbeitsgesetz entstehenden Schadenersatzanspruch einsteht. Der Brief blieb bis heute unbeantwortet.

Wenn die Versicherungen passen, kann für geschädigte PatientInnen demnächst unklar sein, von wem sie ihr Geld bekommen. Von der Klinik? Vom Arzt? Wenig tröstlich, daß zumindest in strafrechtlicher Hinsicht die Verantwortung eindeutig beim Arzt liegt. Und daß Kunstfehleropfer durch das neue Gesetz bessere Chancen haben, einen Prozeß zu gewinnen. Bernhard Resemann: „Hat ein Arzt in übermüdetem Zustand weitergearbeitet und dabei einen Schaden verursacht, ist es sehr gut denkbar, daß ein Staatsanwalt sagt: Hier klage ich an, hier sehe ich eine fahrlässige Körperverletzung oder eine fahrlässige Tötung.“

Unter Patienten müssen wohl erst Übermüdungsopfer aktenkundig werden, bevor die Verwaltungschefs sich für ein Arbeitszeitgesetz engagieren, das zum Schutz von Ärzten und Patienten verabschiedet wurde.