Nordeuropa: Eine zurückgebliebene Zivilisation

■ Der Archäologe José Luis de Matos über den Einfluß der arabischen Kultur auf Europa

taz: Sie sagen, Lissabon sei noch heute eine arabische Stadt...

José Luis de Matos: Die ältesten Teile Lissabons, die Viertel Alfama und Mouraria, haben noch immer den Charakter einer arabischen Stadt: die schmalen Straßen, die Sackgassen, die Treppen. Die Altstadt ist nicht nach römischer Art strukturiert, sondern nach arabischer. Das bedeutet nicht, daß die Häuser aus der muslimischen Epoche stammen. Aber die Neuerungen, die im Laufe der Zeit stattgefunden haben, sind immer im Rahmen des arabischen Grundmusters der Stadt geblieben.

Wie lebten die Menschen während der arabischen Herrschaft?

Die Hälfte der Bevölkerung Lissabons waren Christen. Doch sie gehörten nicht der päpstlich- römischen Kirche an. Christliche Gemeinschaften gab es auch in den anderen Städten der Iberischen Halbinsel. In Córdoba etwa war der Bischof der Stadt zugleich Botschafter des Kalifen bei den christlichen Königen Europas. Auch daran sieht man, daß Christen und Muslime in der Regel völlig normal zusammenlebten. Fundamentalismus war die Ausnahme.

Wie reagierten die Kreuzritter, die Lissabon 1147 eroberten, auf dieses Zusammenleben?

Osberno, einer der Kreuzritter, nennt Lissabon in einer Chronik eine „schreckliche Stadt“. Das friedliche Zusammenleben von Christen und Muslimen war ihm, der die Araber zu bekämpfen hatte, unverständlich, es widersprach den Empfindungen und Gewohnheiten der Kreuzritter. Auch deshalb war der Bischof Lissabons unter den ersten, die nach der Eroberung der Stadt von den Kreuzrittern getötet wurden.

Was haben die Araber Europa gegeben?

Durch die Araber hat Europa die gesamte Philosophie der Antike kennengelernt, es wurde mit neuen landwirtschaftlichen Techniken vertraut gemacht, mit den Gesetzen der Alchimie. Dies alles ist hier passiert: in Lissabon, in Córdoba, in Toledo. Der Abt Hugo von Cluny schickte seine Mönche nach Toledo, damit sie von den Arabern und Juden dort die neuen Wissenschaften lernten. Die Juden fungierten dabei als Übersetzer aus dem Arabischen ins Lateinische. Auch die europäische Architektur hat ihre Ursprünge in Córdoba. Die Kreuzritter kamen aus dem Norden Europas, wo es in den Städten außer den Kirchen kaum steinerne Gebäude gab. Lissabon lebte damals vom Handel und von der Seefahrt, vom Markt der mediterranen Länder. Hier hat es nie Feudalismus gegeben, immer Marktwirtschaft.

Angesichts der zivilisatorischen Überlegenheit war der Süden also das Zentrum Europas?

Das ist offensichtlich. Die Moschee von Córdoba etwa war im 10. Jahrhundert das größte und eindrucksvollste Gebäude ganz Europas. In London lebten damals 5.000 Menschen, in Paris 10.000; Lissabon dagegen hatte 120.000 und Córdoba gar eine Million Einwohner. In Córdoba gab es Straßenbeleuchtung, gepflasterte Straßen, Wasserleitungen, öffentliche Bäder, ein reiches urbanes Leben. An der Universität wurden Naturwissenschaften und Philosophie gelehrt, auf höchstem wissenschaftlichem Niveau. Zu jener Zeit wurden in Córdoba jährlich 125.000 Bücher hergestellt. In Sevilla gab es eine Straße nur mit Buchhandlungen. Dies gibt eine Vorstellung von der zurückgebliebenen Zivilisation im Norden Europas und der extrem reichen Zivilisation im Süden. Es gibt ein kulturelles Erbe aus der muslimischen Zeit, das wir bewahren sollten, weil es so wichtig ist für die europäische Geschichte. Interview: Theo Pischke