Emigranten sind sie geblieben

An Portugals Atlantikküste begann im 15. Jahrhundert der Aufbruch Europas. Aber das entstandene Weltreich zehrte das kleine Land allmählich aus  ■ Von Theo Pischke

Am Cabo da Roca geht es nicht weiter. Am Felsenkap, am äußersten westlichen Rand des Festlands, ist Europa zu Ende. Eine knappe Autostunde von Lissabon entfernt bricht Europa auf der ganzen Länge seiner Küste senkrecht ab: 140 Meter unter den Füßen brandet der Atlantik gegen den Fels. An der portugiesischen Atlantikküste begann der Aufbruch Europas, begann „das Wissen- Wollen, Erfahren-Wollen, Über- den-Rand-Hinausschauen-Wollen“, wie es der deutsche Schriftsteller Heinrich Jaenecke nennt, der Portugal viel bereist hat.

1434 umschiffte Gil Eanes das Kap Bojador an der Nordwestküste Afrikas. 1488 umsegelte Bartolomeu Dias das Kap der Guten Hoffnung, 1498 fand Vasco da Gama den Seeweg nach Indien, im Jahre 1500 landete Pedro Alvares Cabral an der brasilianischen Küste. Durch die Seefahrt eröffneten sich der Wissenschaft neue Horizonte. Astronomie, Astrologie, Geographie, Nautik, Mathematik und Botanik wurden revolutioniert. Die Seefahrer kamen zurück mit überwältigenden Eindrücken aus einer fremden Welt. Doch ihre Schiffe waren beladen mit Gestohlenem. „Die europäische Gier war erwacht“, charakterisiert Jaenecke den Entdeckungstrieb, „diese explosive Mischung aus Sendungsbewußtsein und Profitgier, die die ganze Welt als legitime Beute betrachtete.“

Bartolomeu Dias, Vasco da Gama, Pedro Alvares Cabral – die „Entdecker“ waren Abenteurer, Kriegsherren und Visionäre zugleich. Nichts schreckte sie ab, und sie schreckten vor nichts zurück. Ihre Schiffsartillerie bahnte ihnen den Weg, wo immer sie aufkreuzten. Aber das Weltreich zerrann fast so schnell, wie es gewonnen worden war. Das Imperium zehrte das kleine Portugal allmählich aus. Das damals kaum eine Million Einwohner zählende Land verlor durch die Seefahrt Zehntausende von Menschen. Die Hälfte der „Entdecker“ starb auf der Reise oder am Zielort. Doch im „Mutterland“ lockte die Aussicht auf schnellen Reichtum die Menschen weiterhin in die Ferne. Die Landflucht ließ die Landwirtschaft veröden, in der Hauptstadt leistete der plötzliche Reichtum Korruption und Mißwirtschaft Vorschub.

Die 60jährige spanische Besetzung Portugals von 1580 bis 1640 beschleunigte den Sturz des Weltreichs. Die Flotte war vernichtet, die indischen Kolonien zum größten Teil an Holland und England verloren. Aus Angola und Mosambik machte Portugal sich erst 1975 davon – Hals über Kopf und ohne für einen friedlichen Übergang in die Unabhängigkeit zu sorgen.

Nach 1975 kehrten mehr als 600.000 „Retornados“ aus Afrika heim ins europäische „Mutterland“. Hinzu kamen Angolaner, Mosambikaner, Menschen aus Kap Verde, Guinea-Bissau und Ost-Timor, die vor Hunger, Elend, Krieg und Chancenlosigkeit aus ihrer Heimat flüchteten. Hans Magnus Enzensberger staunt in seinen „Portugiesischen Grübeleien“: „In keiner anderen Stadt Europas sieht man so viele braune, schwarze, gelbe Menschen wie in Lissabon. Nirgends tritt die dritte Welt selbstverständlicher auf.“

Diese Menschen machten Lissabon zu einem Treffpunkt der Kulturen. Aber auch heute noch ist Portugal ein Auswandererland. Das Land hat 9,8 Millionen Einwohner, weitere 4,5 Millionen Portugiesen leben über die halbe Welt verstreut: 1,2 Millionen in Brasilien, 700.000 in Südafrika, 750.000 in Frankreich, 100.000 in Deutschland. In Tras-os-Montes oder im Alentejo gibt es Dörfer, die nahezu ausgestorben sind. Nur im Sommer füllen sie sich mit Leben – wenn die „Gastarbeiter“ auf Heimaturlaub kommen.

Das Cabo da Roca wird jährlich von einer halben Million Touristen besucht. Mit ihren Videokameras filmen sie auf den Atlantik hinaus. In der Ferne schwimmen winzige weiße Dreiecke: Es sind die Boote der Hobbysegler.