Jammern gehörte immer dazu

Der Streit über Mißbrauch und Überforderung prägte seit Ende des 19. Jahrhunderts das deutsche Sozialsystem: Von faulen Deutschen, ausländischen Billigjobbern und internationalem Wettbewerb  ■ Von Barbara Dribbusch

Das war zuviel für die Unternehmer: „Erschreckendes“ meldeten sie aus der Niederlausitz. In den guten alten Zeiten hatten im Winter immer die Saisonerwerbslosen aus den Städten für einen Hungerlohn Baumstämme geschleppt und Wege geräumt. Jetzt aber herrschte Mangel an solchen Hilfskräften. Das beweise, daß der „Arbeitswille“ durch das Gesetz zur Arbeitslosenversicherung „totgeschlagen“ werde, schäumte die Deutsche Arbeitgeber-Zeitung vom 18. März 1928. Das Lamento klingt vertraut.

„Anspruchsdenken hat sich immer mehr verbreitet. Die Niedriglohngruppen sind völlig verwaist“, klagte Arbeitgeber-Präsident Klaus Murmann 65 Jahre später. „Der Mißbrauchsverdacht – also: es könnte gar jemand essen, ohne arbeiten zu wollen – begleitet die Entwicklung des Sozialstaats seit seinen Anfängen“, erklärt der Sozialforscher Georg Vobruba. Es gehört zur Dynamik des Sozialwesens, daß die Klage nicht etwa dann besonders laut ertönt, wenn bei guter Konjunktur von den LeistungsempfängerInnen erhöhte eigene Anstrengungen erwartet werden könnten. Im Gegenteil: Der Refrain über Arbeitsscheu und Eigenverantwortung erklingt laut in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, wenn die Betroffenen besonders schutzbedürftig sind. Und wenn die Beitragslast die Wirtschaft drückt.

Als erstmals eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung eingeführt wurde, tobte der Streit besonders heftig. Das im Juli 1927 in Kraft getretene AVAVG vollendete die soziale Sicherung, die mit dem Aufbau der Renten-, Kranken- und Invalidenversicherung Ende des vorigen Jahrhunderts begonnen wurde. Drei Prozent vom Lohn zahlten Arbeitgeber und Beschäftigte anteilig in die Versicherung. Dafür bekamen Erwerbslose für die Dauer von bis zu 26 Wochen eine Unterstützung, die sich nach Familienstand und Lohnklasse bemaß. Niedrigverdienende Familienväter erhielten bis zu 80 Prozent ihres letzten Entgelts – was ein Hungerlohn war –, und das ohne Bedürftigkeitsprüfung.

Die Reaktion der Arbeitgeber kam prompt: „Die Umstände zwingen zu dem Schluß, daß die heutigen verhältnismäßig hohen Arbeitslosenziffern weniger Folgen einer echten als solche einer künstlich entstandenen Arbeitslosigkeit sind“, rügte ein Kommentator in der Deutschen Arbeitgeber- Zeitung vom 26. Februar 1928. Die „künstliche Arbeitslosigkeit“, der fehlende Wille zu niedrig bezahlten Hilfsjobs in der Landwirtschaft, würde durch die Erwerbslosenversicherung gefördert.

Die Wirklichkeit sah anders aus: In den kommenden drei Jahren verdreifachten sich die Arbeitslosenzahlen. Die soziale Sicherung wurde abgebaut: 1932 waren angesichts der Wirtschaftskrise die Bedürftigkeitsprüfung für Arbeitslose wieder eingeführt, die Leistungen um mehr als ein Fünftel gekürzt und zeitlich beschränkt worden.

Der Refrain von den verwöhnten Arbeitslosen erlebte ein Remake 50 Jahre später. „Die Arbeitslosigkeit kann man schon heute in eine echte und in eine unechte Arbeitslosigkeit teilen“, schrieb der SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Lohmar 1975 im Spiegel. Zu den „unechten Arbeitslosen“ gehörten jene, die „durch die Kombination von Arbeitslosengeld, Schwarzarbeit und steuerlicher Familiensituation ihre ,Arbeitslosigkeit‘ oft einträglicher und jedenfalls erträglicher finden als eine ihnen zugemutete Arbeit ohne übertarifliche Zuschläge“.

„Seit Mitte der 70er Jahre“ wurde „seitens verschiedener Interessengruppen versucht, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, die Ursachen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit lägen allein in den angeblich zu hohen Kosten und Ansprüchen des ,Faktors‘ Arbeit“, bestätigen die Geschichtsforscher Johannes Frerich und Martin Frey. Die Debatte über Mißbrauch und Überforderung setzte wieder ein, als der Arbeitsmarkt objektiv enger wurde.

„Soziale Leistungen dürfen nicht zu einer falschen Bequemlichkeit führen“, fordert heute Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU), um die Kürzungen bei der Sozialhilfe zu rechtfertigen. Auch der Vorwurf, arbeitslose Stützeempfänger wollten angeblich keine „niederen Tätigkeiten“ ausführen, wurde schon vor 90 Jahren von Kritikern der Armenfürsorge erhoben. „Bei der letzten wirtschaftlichen Krise verlangte eine ostelbische Landwirtschaftskammer zur Vornahme von Forstkulturarbeiten zu guten Bedingungen 50 Gelegenheitsarbeiter. Als diese in einer Berliner Wärmehalle, in der sich ungefähr 1.500 beschäftigungslose Arbeiter aufhielten, bekanntgemacht wurde, meldeten sich 15 Männer zur Überführung. Von diesen 15 nahmen 10 während des Transports Reißaus, und die letzten 5 verschwanden nach dreitägiger Arbeit“, schilderte genüßlich die Deutsche Arbeitgeber-Zeitung am 15. November 1908.

Die Unternehmer bemängelten damals, daß für schwere Tätigkeiten, etwa im Kanalbau, fast nur noch „tschechische, slowenische oder polnische“ Kräfte eingesetzt waren. „Der Hinweis, daß deutsche oder gelernte Arbeiter die schwere Arbeit der Ausländer nicht verrichten können, ist nicht ernst zu nehmen. Deutsche Arbeiter leisten oft nach Feierabend bei Umzügen, in Laubenkolonien und so weiter mehr als ein Ausländer gegen Lohn den ganzen Tag.“

Die vermeintliche Arbeitsunwilligkeit war das eine, der internationale Wettbewerbsdruck das andere Argument, mit dem deutsche Unternehmer von Anfang an gegen den Sozialstaat lamentierten. „Die gewaltige Summe der Soziallasten kann ohne Gefährdung der Wirtschaft kaum noch erhöht werden“, beschwor die Arbeitgeber- Zeitung am 15. Januar 1928 und forderte am 4. März 1928: „Der Warnruf (...), daß die Selbstkosten der deutschen Industrie um etwa 30 Prozent höher lägen als die der belgischen und französischen Industrie, sollte doch selbst den eingefleischten Gewerkschaftsführern zu denken geben. Das deutsche Volk ist umgeben von harten Konkurrenten, die jeden Vorteil, den ihnen eine Steigerung der deutschen Gestehungskosten auf dem Weltmarkt gibt, zielbewußt und rücksichtslos ausnutzen.“

Hinter der Mahnung, jede Erhöhung der Leistungen und Beiträge ruiniere die Wirtschaft, „verbarg sich die Lohnfrage“, schrieb der Soziologe Ludwig Preller. „Höhere Unterstützungen“ verhinderten die vor allem für den Weltmarkt „erstrebte Lohnsenkung“. Auch das gilt heute noch wie damals, vor 70 Jahren.

Abbildungen aus Landwehr/Baron (hrsg.): „Geschichte der Sozialarbeit“, Beltz Verlag 1983 (oben); Sachße/Tennstedt: „Bettler, Gauner und Proleten“, rororo 1983 (unten)