Ein Register der Verheerungen

■ Hans-Ulrich Treichels tragikomische Prosa über eine Kindheit in Westfalen

Auch während der Hausgeburt fährt der kleingewerbetreibende Vater fort, die gebärende Ehefrau mit den Fragen seiner im Vorraum wartenden Kunden nach Zigarren und Zeitschriften zu belästigen. Die Hebamme läßt den Kopf des Neugeborenen daraufhin verärgert auf den Fußboden sinken. Dort öffnet der Erzähler, ein später Nachfahr Tristram Shandys, zum ersten Mal seine Augen und blickt in die Augen eines Labradors – in seinen Ursprung, wie er, zweifellos tragisch irrend, meint. „Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel“ ist der Titel der aberwitzigen Erzählungen von Hans- Ulrich Treichel.

Dem Laufstall seines Kindes nähert sich der Vater nur, um die in seinem Kiosk unverkauften Zeitschriften zwischenzulagern. Weil der Ich-Erzähler im Laufstall auch seine Mutter nur selten zu sehen bekommt, sucht er in den Remittenden nach Adoptiveltern. Als sich die Fotografien auf Dauer als unbefriedigend erweisen, wandelt sich der vermeintlich frühreife, perfekte Zeitschriftendurchblätterer zum Zeitschriftenzerreißer. Der Vater macht sich die von ihm verschuldeten Aggressionen zunutze, indem er den Laufstall fortan mit leeren Kartons und Schachteln füllt, die der Sohn mit zunehmender Perfektion zerlegt.

Dann sucht der Zerkleinerungsdrang auch außerhalb des Laufstalls nach Betätigung. Im Stadtpark säumen säuberlich zerlegte Stäucher den Weg des jugendlichen Spaziergängers mit Hund. Ein Stadtparkverbot ist die Folge. Der Labrador geht allein Gassi und wird prompt trächtig. Die Welpen sieht der Erzähler als seine Geschwister an. Als der Vater sie umstandslos außer Haus gibt, entwickelt er ein „tragisches Lebensgefühl“.

In diesem tragikomischen Stil geht es weiter. Aus Westfalen, wo die schulische Heimatkunde mangels schöner Heimat zur heimatlichen Schädlingskunde mutiert, führt eine Schneise von Schicksalsschlägen den Erzähler nach Berlin, in akademische und esoterische Wirrungen sowie in Aushilfsarbeiten. In Stendal, Portugal und Venedig ist er dann schon Ehemann, Dichter und Bildungsreisender, ohne daß ihm die Welt mit der Zeit vertrauter würde.

Nicht nur im tragischen Lebensgefühl ist „Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel“ fast ein Double von Treichels Prosasammlung „Von Leib und Seele“, die vor vier Jahren erschien. Wieder kreist Treichel, Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, um ähnliche, erkennbar autobiographische Lebenssituationen. Allerdings sind einige Erzählungen über den Erwachsenen („Am Großen Wannsee“) schwächer als jene aus der Kindheit in Westfalen.

Diese entwerfen eine kleine Mentalitätsgeschichte der 50er Jahre anhand von Sprache und Körper. Der Vater ist ein Kriegsversehrter mit einer Handprothese, zusammengehalten von einem Korsett und einem Arsenal von Sprichwörtern. Bei diesem Wechselbalg aus realen und sprachlichen Prothesen wird der Humorist stellenweise zum Satiriker: etwa, wenn der Vater in dem gebildeten „Negerpastor“ gönnerhaft eine verwandte Seele ausmacht, weil der promovierte Theologe über einen reichen Schatz lateinischer Spruchweisheiten verfügt.

Treichels Faszination für Lebensbilanzen und Sprichwörter zeigten schon seine Gedichtbände. Der zweite trug den wegweisenden Titel „Liebe Not“ (1986), und in „Seit Tagen kein Wunder“ (1990) heißt es in treicheltypischer und an Brecht erinnernder Lakonie: „Die Steuern bezahlt, / ein paar Haare verloren und / über die Liebe nur Gutes gehört.“

In den Erzählungen ist der Raum, den die Gedichte aussparen, auf überaus knappe Weise ausgefüllt. Ohne Absätze, atemlos gedrängt wie Running Gags des Stummfilms folgen die Erlebnisse aufeinander; Personen kommen nur in indirekter Rede zu Wort. Treichels Erzähler will seine Version der Welt, mag sie auch noch so verheerend sein, kontrollieren, um eine andere, womöglich existenzgefährdene Verstörung niederzuhalten. „Alles ist heiter und edel“, verspricht der Untertitel und erinnert an die Hoffnung der Klassik auf eine Versöhnung mit der Welt. Doch einmal entschlüpft das vollständige, Stendhal zugeschriebene Zitat: „Alles ist heiter und edel, nichts flößt Schrecken ein.“

Dieser Schrecken hat den Erzähler zum steinernen Gast des eigenen Erlebens werden lassen. „Besichtigungen“ nennt Treichel die Erzählungen. Der Protokollant seines Lebens ist sich selbst fremd, nicht einmal die Kindheit war ihm Heimat. Worin er noch nie war, dorthin vermag ihn auch keine „Heimatkunde“ zu führen. Sie erstellt vielmehr ein mit bemerkenswertem Gleichmut hingemurmeltes Kataster der Verheerungen. Dank Hans-Ulrich Treichels apokalyptisch unterfütterter Lakonie flößt es mitleidloses Vergnügen ein. Jörg Plath

Hans-Ulrich Treichel: „Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel“. Suhrkamp Verlag, 1996, 134 Seiten, geb., 32 DM.