Europas Teilzeit-Nationalisten

Vielen Fans sind die Vereine zu international. Wer Ausländer nicht mag, dem ist die jeweilige Nationalmannschaft eine echte Alternative  ■ Von Dietrich Schulze-Marmeling

Zu den heiß diskutierten Themen im Vorfeld der EM zählt fast zwangsläufig die Gefahr, die von den Fans ausgehen könnte. Zumal der Austragungsort England ja nicht nur das Mutterland des modernen Fußballs ist, sondern auch des „Hooliganism“. Die englische Boulevardpresse beschwört seit Moanten die Gefahr einfallender Nazihorden, schürt aber gleichzeitig selbst den Fußball-Chauvinismus.

In einem sich vereinenden Europa wirkt diese nationalchauvinistische Einstimmung auf die EM, deren teilnehmende Mannschaften nach nationaler Zugehörigkeit zusammengestellt sind, wie ein Anachronismus. Oder reflektiert das Ereignis etwa den Niedergang des Europaprojekts, an dessen Stelle eine neue Phase erbitterter nationalstaatlicher Konkurrenz zu treten droht?

Fußball ist vom Wesen her international – ein Spiel, das rund um den Globus betrieben wird. Aber faktisch hat der Fußball immer wieder auch zur Bestätigung, ja sogar Verschärfung ethnischer und nationaler Gegensätze beigetragen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Fußball erfreut sich in Nordirland sowohl bei Protestanten als auch bei Katholiken großer Popularität. Aber des Spiels Versöhnungsbeitrag blieb bislang äußerst gering. Statt dessen bot der Fußball wiederholt eine Bühne zur Austragung der Feindschaft zwischen den beiden Communities.

Internationale Fußballwettbewerbe laufen stets Gefahr, von einem sportlichen Ereignis zu einem gegenseitigen Messen nationaler Tugenden zu degenerieren. Wenn der „Bundes-Berti“ verzweifelt versucht, seinem Team spielerische Elemente beizubringen und dabei verdächtig „holländisch“ wirkt, dann grenzt das fast schon an antinationaler Gesinnung.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welcher Typ Fan die Nationalmannschaften eigentlich verfolgt. Der britische Autor Nick Hornby hat kürzlich diesbezüglich eine provokante These aufgestellt. Die Leute, die sich England ansehen würden, seien die schlimmsten Leute überhaupt, behauptet Hornby: nationalistisch, ausländerfeindlich, rassistisch. „Wembley hatte bis vor kurzem über 90.000 Plätze. In England gibt es 92 Profiklubs. Ich glaube, die schlimmsten tausend Fans jedes Vereins sind zu Länderspielen nach Wembley gefahren.“

Hornbys Beobachtung trifft wohl auch auf die Fans der deutschen Nationalelf zu. Denn dank international operierender Fußballunternehmen wie Bayern München und Borussia Dortmund gibt es längst Alternativen zum dumpfen Fußball-Nationalismus. Diese Vereine sind allerdings mit ausländischen Stars bespickt, unter die sich zuweilen auch ein Schwarzer mischt.

Wer Ausländer nicht mag, wer der Auffassung ist, es ginge auch ohne fremde Hilfe, dem bietet die Nationalmannschaft eine Alternative. Mit der Nationalmannschaft läßt sich noch beweisen, daß der deutsche Fußball auch ohne „seine Ausländer“ international bestehen kann.

Fußball-Nationalismus ist nicht nur den Fans vorbehalten, sondern schwirrt auch in den Köpfen vieler Funktionäre. Nach der Verkündung des „Bosman-Urteils“ war von Funktionärsseite zu hören, die vollständige Freizügigkeit beim Wechsel innerhalb der EU würde den unverzichtbaren nationalen und regionalen Charakter von Fußballteams zerstören und damit den Zuschauer vom Stadionbesuch abschrecken. Eine fragwürdige Klientel, die sich die Funktionäre wünschen. Denn würde die Identität eines Einwanderungslandes nicht wesentlich besser repräsentiert, wenn auch die Talente der ethnischen Minderheiten mitkicken dürften? Ganz abgesehen davon, daß dadurch auch neue Zuschauer mobilisiert würden.

Wer sich in deutschen und englischen Erstligastadien auf die Suche nach Türken beziehungsweise Asiaten begibt, kann genau so gut im Heuhaufen nach der berühmten Stecknadel wühlen. Die Fangruppen, die die deutsche und englische Nationalmannschaft bei internationalen Turnieren begleiten, haben mit denen der jeweiligen „nationalen“ Ligen nur bedingt zu tun. Die Mehrheit der deutschen Fans sind nicht einmal Hooligans, sondern kleinwüchsige, bierbäuchige Herren mit Versandhausfrisur, Schnäuzer und Fielmann- Brille, unterm Arm ein Sitzkissen und eine kleine Fahne geklemmt. Spießiger Mainstream eben, der nach der EM auf Mallorca einfallen wird und den man am besten mit Heino unterhalten kann. „Flachmänner in Schalensitzen“, wie ein Kollege einmal trefflich schrieb, die mit den kritischen Fan- Debatten, wie sie in Deutschland und in England geführt werden, so wenig am Mützchen haben wie mit der Originalität der Fankurven.

Das Interesse an der Nationalmannschaft hat in den letzten Jahren kontinuierlich nachgelassen. Schuld daran ist (leider) weniger ein grassierender Internationalismus als vielmehr die Kommerzialisierung des Spiels und der Aufstieg von Medienkonzernen zu Intendanten und Regisseuren fußballerischer Ereignisse. Über den Status eines Fußballklubs entscheidet heute vor allem seine TV-Präsenz, denn die Sozialisierung des Fußballfans erfolgt via Bildschirm.

Dort aber sind Klubs wie Borussia Dortmund und Bayern München, Juventus Turin, Ajax Amsterdam oder Manchester United erheblich häufiger zu begutachten als die jeweilige Nationalelf. Vereinsmannschaften lassen sich besser vermarkten und bieten – aufgrund ihrer internationalen Zusammensetzung sowie ihres regelmäßigen Zusammenspiels – eine bessere Qualität. Die Nationalmannschaft interessiert nur noch bei internationalen Turnieren wie etwa einer EM.

Natürlich darf man nicht alle Fans der Nationalmannschaften über einen Kamm scheren. Unter den englischen und deutschen Fans etwa befinden sich auch solche, denen es vornehmlich um Fußball geht und die internationale Turniere als Möglichkeit des Austausches und der Verständigung begreifen.

Anfällig für „Hooliganism“ sind auf internationale Ebene vor allem England, Deutschland, aber auch die Niederlande, wobei im letzteren Fall dieses Problem durch das Mitwirken schwarzer Spieler beziehungsweise den nicht-völkischen Charakter des Teams abgeschwächt wird. Die Dänen hingegen werden wiederum kaum für „Trouble“ sorgen.

Gleiches galt in der Vergangenheit auch für die Iren, die diesmal leider nicht dabei sind. Die irische „Emigrantenelf“ reflektierte ein eher modernes Verständnis von „nationaler Identität“. Die Begeisterung für das Team rührte weniger aus einem völkischen Bewußtsein, denn aus der Tatsache, daß die Nationalmannschaft das einzige war, was das Land fußballerisch international zu bieten hatte.

Aufgrund der Schwäche der Vereinsmannschaften ist nicht nur die politische, sondern auch die sportliche Bedeutung der Nationalmannschaften einiger kleinerer europäischer Länder unverändert groß. Die Nationalmannschaften profitieren dabei von der Internationalisierung der Vereinsmannschaften der führenden Fußballnationen. Die Freizügigkeit beim Wechsel innerhalb Europas schwächt zwar ihren Vereinsfußball, stärkt aber die Nationalmannschaften, während sich dies im Falle Italiens, Deutschlands oder Englands andersherum verhält.