Immer mehr Brasilianer wollen eine eigene Scholle

■ Laut Kirche nehmen Landbesetzungen ständig zu. Auch Städter machen mit

Rio de Janeiro (taz) – Landkonflikte und Landbesetzungen nehmen in Brasilien immer weiter zu. Dies geht aus dem Jahresbericht der Pastoralen Landkommission (CPT) hervor, der am Mittwoch in São Paulo von Erzbischof Paulo Evaristo Arns vorgestellt wurde. Der Kardinal warnte Staatsoberhaupt Cardoso, daß „Brasilien sich ohne Agrarreform in ein soziales Pulverfaß verwandeln“ werde.

Nach Untersuchungen der von der katholischen Kirche unterstützten Landpastorale wurden im vergangenen Jahr 146 Besetzungen registriert, in die insgesamt 30.476 Familien verwickelt waren. Gegenüber dem Jahr 1990, als sich 7.900 Familien an 30 Besetzungen beteiligten, entspricht dies einem Zuwachs von 387 Prozent. Zwischen 1990 und 1995 wurden laut CPT 922 Menschen bei Landkonflikten umgebracht. Die jüngste Exekution von 19 Landlosen in Eldorado do Carajas im vergangenen April ist in der CPT-Statistik noch nicht enthalten. In 47 Fällen kam es zu einem Prozeß, doch nur fünf der Täter wurden verurteilt. Zwei der verurteilten Mörder sind aus dem Gefängnis geflüchtet.

Brasiliens Präsident Cardoso hatte in einem Interview mit Auslandskorrespondenten in Rio kürzlich Probleme bei der Umsetzung der von ihm angestrebten Agrarreform in die Praxis eingeräumt. „Jedes Landgericht kann Mitglieder der Landlosenbewegung wegen vermeintlicher Bandenbildung festnehmen, und ich kann nichts dagegen machen“, kommentierte er damals die Festnahme der 25jährigen Landlosen- Anführerin Deolinda Alves de Souza, Mutter eines zweijährigen Kindes. CPT-Vorsitzender Dom Orlando Dotti macht die Mühlen der brasilianischen Justiz für die nur schleppend vorankommende Agrarreform verantwortlich. „Brasiliens Justiz stellt das Eigentum über den Menschen“, empörte sich der Bischof. Die Großgrundbesitzer machen von ihrem Recht, gegen jede Enteignung vor Gericht Einspruch zu erheben, eifrig Gebrauch, was den Streit um ein bestimmtes Grundstück Jahre verzögern kann. Eine Veränderung des Enteignungsprozesses scheiterte bisher an der Lobby der Großgrundbesitzer im Kongreß.

Bei den Landbesetzern handelt es sich laut CPT nicht mehr ausschließlich um Landarbeiter. „In den vergangenen fünf Jahren“, so der CPT-Vorsitzende Orlando Dotti, „hat sich das Profil der Besetzer gewandelt.“ Zu den Tagelöhnern, Landlosen und Plantagearbeitern gesellten sich jetzt auch Arbeitslose und Bauarbeiter aus den Großstädten Brasiliens. Astrid Prange