Die oberen 20.000

Angela Krauß und Marcel Beyer zogen am Wochenende das Doppellos beim „Berliner Literaturpreis“  ■ Von Jörg Plath

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern, und daher sollte ihr Kritiker die Wiederholung vermeiden, jenes wirkungsvolle, gern in Komödien angewandte Mittel. Doch eine Wiederholung ist an diesem Wochenende Juroren und Autoren des „Berliner Literaturpreises“ bei der Verleihung der „Johannes-Bobrowski-Medaillen“ geglückt.

Das ist um so erstaunlicher, als die diesjährigen Preisträger – Angela Krauß und Marcel Beyer – absolut nicht identisch sind mit jenen von 1994 und sich die siebenköpfige Jury vier neue Juroren hinzugewählt hatte (zu Reinhard Baumgart, Sigrid Löffler und Heinrich Vormweg stießen Verena Auffermann, Sibylle Cramer, Martin Lüdke und Elke Schmitter). Machtvoller als die kritischen und künstlerischen Subjekte erwies sich das Statut. Es schaltete erneut den literarischen Sachverstand aus.

Das Schicksalsstatut kennt wie die griechische Mythologie drei Moiren: Die erste heißt „Berliner Literaturpreis“ und beschenkt sieben von der Jury ausgewählte Autoren mit je 10.000 DM; dieses Jahr waren es Marcel Beyer, Wilhelm Genazino, Angela Krauß, Katja Lange-Müller, Ulrich Peltzer, Raoul Schrott und Josef Winkler. Vor der Preisverleihung im Literarischen Colloquium Berlin begegnen sie einer zweiten Moira. Auch sie winkt mit dem Füllhorn, das jedoch nur zwei mit 20.000 DM dotierte „Johannes-Bobrowski-Medaillen“ enthält. Um diese müssen die Autoren mit einem bisher unveröffentlichten Text konkurrieren, der gelesen und gemeinsam diskutiert wird. Während dieser Zeit scheint die dritte Moira, die den Faden der Entscheidung spinnt, tief zu schlafen. 1994, als das Statut revidiert wurde, ist sie unergründlich geworden, manche sagen, auch ein wenig einfältig. Denn sie unterscheidet nicht zwischen Juroren und Autoren. Beide Gruppen, auch die potentiellen Preisträger, wählen die zwei Glücklichen aus.

Diese Vermischung von Kritikern und Produzenten, Werkstattgespräch und Konkurrenzlesung ist fatal. Obwohl wiederholt dazu aufgefordert, entzogen sich die Autoren der Diskussion der Kollegentexte; nur die spontane Katja Lange-Müller und der sympathisch verworrene Marcel Beyer äußerten sich einige Male. Alle wußten nur zu wohl, daß die noch zu verteilenden zweimal 20.000 Mark einen trügerischen Glanz auf jedes Wort werfen.

Damit treten an die Stelle der in der Diskussion geäußerten Jurorenurteile Erwägungen, die mit Preiswürdigkeit so viel zu tun haben wie das am Wannsee gelegene Literarische Colloquium mit dem Segelsport: 1994 krönten Jury und Autoren, was in den zweitägigen Lesungen und Diskussionen zuvor als gutes Mittelfeld bewertet worden war. Selbst der Jurysprecher Reinhard Baumgart ließ damals Erstaunen und Distanz erkennen.

Dieses Jahr baute Baumgart der öffentlichen Kritik, die den Preis seit seiner ersten Vergabe 1989 begleitet, mit einer Presseschelte vor und versprach Kontinuität. Die gab es mit der Auszeichnung von Krauß und Beyer tatsächlich, und wieder war das Erstaunen groß.

Beyers „Textmaschine“ (Baumgart) raunt in einer bürokratischen Sprache von Geheimnissen, die sich Kinder in der kommunikativ versöhnten Welt ihrer Softie-Eltern erfinden. Ob die sprachliche Verfremdung nicht der einzige, schnell erschöpfte Reiz des Romanausschnitts ist, war nicht zu erkennen. Im Falle von Angela Krauß' Bitterfelder Kesselwärterin schien mir die Belanglosigkeit der aneinandergereihten Skizzen allerdings auf der Hand zu liegen.

Gerade für die unscheinbaren Texte aber begeisterten sich fast alle Juroren. Josef Winklers partizipgesättigte Buchhalterlitanei des Geschehens am Gangesufer erfuhr ebenso Lob (Cramer: „Kunstpostkarte ohne Absender“) wie Genazinos Fingerübung über das modische Thema Erinnerung (Baumgart: „Unauffällige Auffälligkeit“). Gegen dessen Mittelschichtprosa, die die beängstigende Leere der Existenz sich beruhigend füllen läßt von entblößten Brüsten, meldete allein Schmitter ein „Minderheitenvotum“ an. Vormweg lobte Katja Lange-Müllers Fragment aus dem Setzermilieu für seine „scheinbare Schlichtheit“. Immerhin hatte Löffler wegen des weitgehend fehlenden grotesken Witzes den Eindruck einer „Folklorisierung und Mythologisierung der Arbeitswelt“.

Demonstrativ lobten die Juroren mit dem berüchtigten „Wittstock-Syndrom“ das Leichte, Unterhaltende. Dennoch mochte niemand dem ersten Eindruck glauben, war er doch meist banal und braucht zudem keine Kritiker. Ein „genauer Blick“ durchdrang also die Oberfläche, und diese Enthüllungsintention bewährte sich an mittelmäßigen Texten mit althergebrachten Erzählstrategien am besten.

Baumgart offenbarte diesen investigativen Kritikansatz, als er Raoul Schrotts Erzählung mit den Worten kommentierte: „Ein imposanter Text, aber was noch?“ Die Sprachmächtigkeit, mit der Schrott vom langsamen Verdursten von vier Männern in der Wüste erzählt, ließ die Juroren ratlos.

Ebenso schwer hatte es Ulrich Peltzer. Die Registrierwut, mit der sein Erzähler die Umwelt kartographiert, war in Peltzers Romanfragment psychologisch motiviert; anders kann der Erzähler keine Beziehung zur Wirklichkeit herstellen.

Mit der von Schmitter zutreffend als „double bind“ erläuterten Konstruktion konnten die Juroren nichts anfangen. Lüdke kritisierte an diesem einzigen formal aus dem Rahmen fallenden Text die vermeintliche Beliebigkeit des angehäuften Materials.

Der Diskussion fehlte die Leidenschaft und der analytische Tiefgang; die Juroren wirkten allzuoft unvorbereitet und sprachen über die Texte, als hätten sie sie gerade zum ersten Mal gehört. Die wenigen kritischen Worte wurden in riesige Wattebäusche eingehüllt. Ein Werkstattgespräch braucht aber mindestens einen Widerpart, der den Finger in die Wunde legt. Nur Widerspurch spornt die Lobredner zu Leistungen an, die die Autoren zu Recht erwarten dürfen.

So überwog der Eindruck freundlich gemeinter Unaufrichtigkeit, den die Vergabe der zwei Johannes-Bobrowski-Medaillen dann bekräftigte.