■ Die Wehrpflicht ist ein Auslaufmodell. Doch die Debatte, was danach kommen soll, hat noch gar nicht begonnen
: Brauchen wir die Bundeswehr noch?

Die Bekenntnisse deutscher Politiker zur Wehrpflicht häufen sich. Das macht stutzig. Handelt es sich dabei etwa um eine verklausulierte Danksagung? Eine Danksagung an jene Millionen junger Männer, die seit 1956 dem Wehrpflichtgesetz Folge leisteten? Man muß jedenfalls kein Hellseher sein, um zu begreifen, daß die Abschaffung der Wehrpflicht nun auch in Deutschland auf der politischen Tagesordnung steht. Die knapper werdenden öffentlichen Mittel sind ein Anlaß, aber nicht die Ursache. Diese liegt tiefer.

Das zentrale Argument der Wehrpflichtbefürworter lautet noch immer, eine Wehrpflichtarmee passe besser zu einer Demokratie. Die Wehrpflicht garantiere so etwas wie eine demokratische Kontrolle der Berufsmilitärs „von unten“ sowie eine Integration der Streitkräfte in die zivile Gesellschaft. Das klingt schön und hat eine lange Tradition. Aber trifft es auch zu?

Zunächst: Das Argument unterstellt stillschweigend, wir hätten eine Wehrpflichtarmee. Tatsächlich haben wir jedoch längst eine Freiwilligenarmee, bestehend aus Berufs- und Zeitsoldaten unter Einschluß von Wehrpflichtigen, die sich freiwillig für den Dienst in der Bundeswehr entschieden haben und nicht für den Zivildienst. Die Abschaffung der Wehrpflicht brächte insoweit also keinen wirklichen Bruch mit dem Bisherigen, sondern lediglich Verschiebungen in der Personalstruktur. Zumal dann, wenn man sich für die Zukunft eine Kombination von Berufssoldaten und Zeitfreiwilligen (z.B. für vier Jahre) vorstellt.

Zweitens läßt „Weimar“ grüßen: Dort sei das Heer „Staat im Staate“ gewesen. Nun ist gar nicht zu bestreiten, daß im Falle einer Professionalisierung neue Kontrollprobleme entstehen könnten. Die westlichen Demokratien haben hier einige Erfahrungen anzubieten, wie man das – anders als im Umgang mit der Reichswehr in der Weimarer Republik – politisch bewerkstelligt. Überdies: Nicht nur die Wehrpflichtigen, auch die Berufssoldaten verstehen sich als „Staatsbürger in Uniform“. Oder gibt es hier Zweifel?

Drittens: In der These von der Wehrpflicht als dem angeblich „legitimen Kind der Demokratie“ schwingt die blauäugige Erwartung mit, die Wehrpflichtigen könnten so etwas wie eine demokratische Armee garantieren. Die historische Erfahrung lehrt etwas anderes: Schon immer waren es die Berufsoffiziere, die den Zwangsrekrutierten ihren Stempel aufprägten – und nicht umgekehrt. Außer Gehorsamsbekundungen hatten die Soldaten nichts zu sagen.

Viertens: Militär und Demokratie sind komplette Gegensätze. Im Militär wird die Unterordnung unter den Befehl erzwungen und der Einsatz von Zerstörungsmacht geübt. Je mehr jungen Männern man diese militärspezifischen Deformationen ersparen kann, desto besser für das demokratische Gemeinwesen und sein gewaltfreies Spielregelsystem. Und schließlich wäre zu fragen, ob die fortwährende Beschwörung des Prinzips der Wehrpflicht nicht noch einen ganz anderen Hintergrund hat. Sind die Wehrpflichtigen das Gelenkstück zwischen Berufsmilitär und Gesellschaft? Anders gefragt: Verliert das Militär ohne Zwangsverpflichtete an gesellschaftlicher Legitimation? Garantieren die Wehrpflichtigen womöglich die Steuergelder für die Streitkräfte?

Angestoßen durch den Zwang zum Sparen, nimmt die aktuelle Wehrpflichtdiskussion einen Verlauf, der objektiv den Tatbestand eines Ablenkungsmanövers erfüllt. Die Frage beispielsweise, ob nun auch die Frau ans Gewehr soll oder darf, zielt bereits in die Zeit nach der Abschaffung der Wehrpflicht. Dadurch droht sich die Debatte vollends von der grundsätzlichen Frage zu lösen, was das Militär in einer Freunde-ringsum-Situation eigentlich noch leisten soll. Diese „Gretchenfrage“ ist bislang immer nur im Sinne der Militärlobby beantwortet, aber eigentlich nie richtig gestellt worden. Wie klein darf eine Bundeswehr ohne Wehrpflichtige sein? Warum wird der Vorschlag unserer Friedensforschungsinstitute nicht ernsthafter diskutiert, die Bundeswehr auf 150.000 Menschen herunterzufahren? Was sind eigentlich die Kriterien für die das personelle Volumen: Status einer „Weltmacht“? Landesverteidigung? Verhinderung eines neuen „Srebrenica“, also die Fähigkeit zur Militärintervention bei Völkermord? Oder Rohstoffkrieg?

Für die meisten der „neuen Aufgaben“, die in den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ vom 26. November 1992 festgelegt wurden, taugen die Wehrpflichtigen nicht. Das weiß die Bundeswehrführung. In den sogenannten Krisenreaktionskräften, die derzeit für weltweite Militärinterventionen vorbereitet werden, wird der Typ des „Kämpfers“ vorherrschen, der zugleich ein hochtechnisierter „Kriegsingenieur“ ist. Folgerichtig, aber kaum öffentlich beachtet, wird in einigen Verbänden derzeit für den Dschungel-, Wüsten- und Polarkrieg ausgebildet.

Vielleicht gibt die neu aufgeflammte Wehrpflichtdebatte noch einmal die Chance, jene außen- und militärpolitische Grundsatzdiskussion zu führen, die unter anderem wegen des jugoslawischen Bürgerkriegs in den Anfängen steckenblieb. Die heutige Argumentation pro und contra Wehrpflicht ist sachlicher geworden. Sie unterscheidet sich wohltuend von den Hexenjagden früherer Zeiten, die noch von den Feindbildern des Kalten Krieges geprägt waren.

Vielleicht kann man in dieser versachlichten Atmosphäre auch über neue Formen des freiwilligen Dienstes reden. Manche Traditionalisten wehren schon die Idee ab, befürchten den „Tugendterror“ der „Gutmenschen“ und rufen nach einer – mit dem Grundgesetz im übrigen unvereinbaren – allgemeinen Dienstpflicht. In dieser neuen Debatte, die jetzt beginnen sollte, geht es generell um eine Aufwertung freiwilliger Dienste in einer Gesellschaft, in welcher die Lohnarbeit knapper wird. Für eine nichtmilitärische Außenpolitik wurden bereits Modelle wie das „Deutsche Umwelt- und Katastrophenhilfswerk" (SPD-Antrag vom 6.9. 1994 im Deutschen Bundestag) und „Ziviler Friedensdienst“ erarbeitet. Sie warten darauf, die Wehrpflicht abzulösen – und wahrscheinlich auch die bisherige Form des Zivildienstes. Wolfram Wette