Der Sanitäter

Für seine Vorgesetzten und Bekannten ist er das, was man einen „guten Jungen“ nennt. „Unauffällig, ordentlich und zuverlässig“, sei Jens L. (26), keinesfalls ein „Spinner“. L. kommt nach der Wende von Eisenhüttenstadt nach Lübeck, macht Zivildienst, arbeitet in einer Großmarktexpedition und engagiert sich beim Roten Kreuz (DRK). Ende 1995 absolviert er einen Kurs als Rettungssanitäter.

In der Brandnacht soll er den leichtverletzten Safwan Eid ins Krankenhaus bringen. Im Bus habe ihm der junge Libanese gestanden: „Wir waren's.“ Noch im Fahrzeug berichtet Jens L. einer Kollegin von diesem „Geständnis“, einen Tag später erwähnt er es gegenüber seiner früheren Vermieterin, die er „Oma“ nennt. Die Frauen raten, zur Polizei zu gehen. Doch L. zögert, er fühle sich an seine Schweigepflicht gebunden. Tatsächlich unterliegen Sanitäter wie Ärzte diesem Gebot.

Jens L. bespricht sich mit seinem Freund und DRK-Kollegen Matthias H.. Der informiert dann von sich aus die Polizei. Am 19. Januar gegen 17 Uhr, rund 38 Stunden nach dem angeblichen Geständnis, wird Jens L. vernommen. Er wolle aussagen, gibt er an, damit kein Unschuldiger verdächtigt werde. Doch die vier Grevesmühlener Jungmänner sind da bereits seit sieben Stunden frei.

Der Sanitäter wird zum wichtigsten Belastungszeugen gegen Safwan Eid, der noch am selben Abend festgenommen wird. Die Ermittler ziehen Jens L. aus dem Verkehr: Sie quartieren ihn unter einem Decknamen in einem Lübecker Hotel ein. Die Staatsanwaltschaft hält L. für absolut glaubwürdig. Dabei gibt es eine Reihe von Widersprüchen zwischen seinen Angaben und denen der Personen, die er vor der Polizei informierte:

– Seine Kollegin sagt, L. habe bei der Wiedergabe des „Geständnisses“ von einer „Flasche“ mit Benzin gesprochen. L. dementiert.

– Die Oma sagt, L. habe als Anlaß für Eids „Racheakt“, von einem „Mädchen“ gesprochen. L. dementiert.

– Matthias H. sagt, L. habe ihm bereits vor Abfahrt des Busses zum Krankenhaus oder unmittelbar nach dessen Rückkehr von dem Libanesen erzählt. In seiner ersten Vernehmung gibt L. an, er hätte H. einen Tag nach dem Brand telefonisch informiert. Wenige Tage später kann sich L. nicht mehr erinnern, wann er H. zum erstenmal von Eid berichtet hat.

Welche Rolle spielt der 24jährige Matthias H.? An seiner Integrität gibt es Zweifel. Ein Zeuge, den Eids Verteidigerin für „sehr vertrauenswürdig“ hält, berichtet der taz folgende Geschichte: Seit Beginn der 80er Jahre war H. ehrenamtliches Mitglied beim Malteser Hilfsdienst (MHD). Als Jugendlicher sei er als Rechter aufgefallen. 1989 sei er in Verdacht geraten, medizinisches Gerät entwendet zu haben. Bei der inoffiziellen Durchsuchung seines Spindes – der Zeuge war anwesend – sei neben Stethoskopen Wahlpropaganda für eine rechte Partei, ein Plan zum Aufbau einer Wehrsportgruppe, eine Gaspistole und ein Gummiknüppel gefunden worden. Man habe H. daraufhin von den Maltesern ausgeschlossen. Der taz liegt ein Zeugnis des MHD für Matthias H. vor. Es wurde zwei Jahre später, 1991 ausgestellt, als H. beim DRK anfangen wollte. Es ist ein reines Arbeitszeugnis, Belobigungen oder Verfehlungen werden nicht erwähnt.

Jens L. und Matthias H. sollen auf einer Liste stehen, die bei einem der rechten Jungmänner aus Grevesmühlen gefunden wurde. Das behauptet der Spiegel in seiner Ausgabe 28/1996. Auch zwei Autodiebe, die im vergangenen Herbst den Wagen der Familie Eid klauen wollten, stünden darauf. Dieser Verdacht ist nicht bestätigt. Es handelt sich um einen Zettel, den die Polizei am 18. Januar in der Bleibe von Maik W. beschlagnahmte. Darauf sind mit Kugelschreiber acht Anschriften vermerkt. Laut Staatsanwaltschaft ist es die gleiche Liste, die im Spiege erwähnt wird – die Ermittler dementieren allerdings, daß die relevanten Namen darauf verzeichnet sind. Vergewissern konnten sich bisher nicht einmal die Anwälte des Beschuldigten Safwan Eid. Der Zettel befindet sich in den sogenannten „Spurenakten“ der Staatsanwaltschaft, die sie im Gegensatz zu den Ermittlungsakten nicht an die Verteidigung herausgeben muß.