■ Nachschlag
: Spacige Obertöne: Huun-Huur Tu und Angelite in der Passionskirche

Ob Buckelwale, tibetische Mönche oder das Aborigine-Instrument Didgeridoo – ein mystisches Brummen geistert seit geraumer Zeit durch die Musikwelt. Auch die Gruppe Huun-Huur Tu aus der südsibirischen Republik Tuva erzeugt mit einer variationsreichen Vokaltechnik zwischen Ober- und Unterton ein solches Brummen – mal eher ein kehliges Dröhnen, dann ein kratziges Summen oder ein dumpfes Gurgeln: Musik, die in der Steppe und Tundra bisher nur Schafe, Ziegen und Musikethnologen zu hören bekamen. Khoomei heißen die Kehlkopfklänge, mit denen die Sänger zwei- bis dreistimmige Klänge, also Melodie und Begleitung gleichzeitig, erzeugen können. In den USA haben Huun-Huur Tu mit Frank Zappa, dem Kronos Quartett und den Chieftains kollaboriert. Jüngst trafen sie sich in Sofia auch mit dem Frauenchor Angelite – den berühmten bulgarischen Engelsstimmen. Der ukrainische Musiker und Komponist Mikhail Alperin hat die beiden Vokalgruppen mit dem russischen Solosänger Sergey Starostin zusammengebracht und für das eurasische Trio einige Stücke arrangiert – eine merkwürdig dissonant-harmonische Jazz-Folk-Space-Mischung.

Mit dieser Avantgarde-Folklore gastierte die fast 30köpfige Besetzung am Montag in der brechend vollen Kreuzberger Passionskirche. In traditionell bunter Kostümierung trugen die Vokalvirtuosen fast bewegungslos ihr collagenartiges Repertoire vor, entrückt-klagende Stoßseufzer und sinfonische Sphärengesänge, zwischendrin unterbrochen durch eine Art südsibirischem Cowboyblues der drei Tuvanesen und begleitet von Alperins angejazztem Piano: bizarr, aber faszinierend, und im doppeltem Sinne schwer verortbar. Nicht nur, weil die bulgarischen Space-Stimmen und das tuvanesische Kehlkopfdröhnen in der Luft zu schweben schienen, sondern auch, weil die ethno-experimentellen Melodien irgendwie außerirdisch klingen: Mehr intergalaktisch als interkulturell. Die bürgerlich-alternative Thirty-something-Passionskirchen-Pilgerschaft jedenfalls konnte vom süchtig machenden Hypno-Sakralsound gar nicht genug bekommen: Neo-Weltmusik der vierten Dimension als spirituelles Bach-Kantaten-Surrogat für Säkularisten. Daniel Bax