Schöne Unordnung im Wald

■ Der Hainich bietet die Chance, ursprüngliche Natur wiederzuentdecken

Michael Hüge aus Craula ist Forstwissenschaftler und Aktivist im Verein der Freunde des Naturparks Eichsfeld-Hainich-Werratal und des Nationalparks Hainich.

taz: Wildnis als Lebenselixier für urban lebende Menschen. Ist das ein neuer Trend?

Michael Hüge: Es geht letztlich immer um die Glaubensfrage von Tun und Lassen. Manche Leute glauben, daß überall die menschliche Hand ordnend und aufräumend eingreifen muß. Es gibt aber immer mehr Menschen, vor allem natürlich in den Industrienationen, die sich nach ursprünglicher Natur sehnen, weil es die kaum noch gibt. Sie wollen gerade so etwas sehen, diese „Unordnung“ im Wald, die doch das eigentlich Normale – das Natürliche – darstellt. Und es gibt immer mehr Menschen, die sich auf einen umgebrochenen Baumriesen setzen wollen und einfach diese Umgebung auf sich wirken lassen möchten, damit ihnen das Herz aufgeht.

Gibt es hier letzte Reste von deutschem Urwald?

Diese Stelle im Weberstedter Holz im südlichen Hainich ist die Zerfallsphase eines Buchenwaldes. Kein Urwald, weil wir zweifellos, wenn wir uns umschauen, hier die Auswirkungen menschlichen Wirtschaftens sehen. Diese sind aber Flächen, die sehr lange ohne wesentlichen menschlichen Einfluß, ohne ordnungsgemäße Forstwirtschaft sich zurück zum Naturwald entwickeln konnten. Das ist das Einzigartige an diesen Flächen, die es nirgenwo anders in Deutschland mehr gibt.

Der Hainich als waldökologisches Mekka?

Ja, die naturnahen Wirtschaftswälder ließen den Hainich zum forstlichen Mekka werden. Das ist eine phantastische Synthese aus Ökologie und Ökonomie. Daneben muß man große Flächen dieses einzigartigen Laubwaldgebietes mit anderen Augen sehen, wenn man verstehen will, worum es in einem Nationalpark geht: Wir haben bislang kaum gelernt, uns zurückzuziehen und auch mal zu beobachten. Wir wissen über Naturwald, über Waldentwicklung, Waldsukzession wirklich so wenig, daß wir solche Lehrbeispiele in unserer Landschaft sichern müssen. Nicht aus grüner Spinnerei, sondern aus der Notwendigkeit, Naturerbe zu bewahren und späteren Generationen zu überliefern.

Was macht den Hainich zum Dokument unserer Landschaftsgeschichte?

Wir haben einen allmählichen Übergang von den Kalkbuchenwäldern des Hainich zu den Eichenwaldgesellschaften des Thüringer Beckens. Je weiter wir nach Osten kommen, desto geringer werden die Niederschläge, desto konkurrenzstärker wird die Eiche zur Buche. Es kommt Hainbuche hinzu, es kommt Linde hinzu, Feldahorn, Elsbeere, Wildkirsche, in immer steigenden Anteilen. Wir könnten also mit diesem Nationalpark zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wir finden hier zum einen diejenige Ausprägung deutschen Waldes vor, der ursprünglich den größten Teil Mitteleuropas bedeckte: den charakteristischen Buchenmischwald. Und daneben haben wir etwas sehr Wesentliches, eben Eichenmischwälder.

Selbst im Weberstedter Holz, einem Teil der wertvollsten Flächen des zukünftigen Nationalparks, werden derzeit vom Bundesforstamt Mühlhausen noch Bäume gefällt. Kein gutes Zeichen?

Eigentlich dürfte hier gar kein Baum mehr fallen. Hier schafft man Tatsachen und zerstört Naturwald. Zumindest die Naturwaldbereiche müßten spätestens jetzt mit Nutzungsverzicht belegt werden. Die weitere Schädigung unseres Naturerbes läßt sich nur durch ein sofortiges positives Votum der Entscheidungsträger in Thüringen für den Nationalpark Hainich stoppen. Interview: Ulrich Grober