Hedonismus verpflichtet

■ Endlich im Kino: Bo Widerbergs Berlinale-Gewinner „Schön ist die Jugendzeit“

Der Titel dieses schwedischen Films soll natürlich ironisch sein; man muß hoffen, daß er nicht schon im Vorfeld das Publikum verscheucht. Denn „Schön ist die Jugendzeit“ ist ein großer, epischer Film mit einer nahezu unfehlbaren visuellen Konstanz: Was die Kamera betrifft, wie sie Interieurs abbildet; was die Farben und das Schimmern von Materialien angeht; und die Führung der Figuren, die detailliert vermessen ist und dennoch genug Spontaneität erlaubt, um das Leben in Malmö um 1943 ergreifend und glaubhaft vorstellbar zu machen – Schweden ist eine der wenigen funktionierenden europäischen Demokratien mit einer nationalen Idee solidarischer Gemeinsamkeit, dem „Volksheim“.

Es gibt wenige eilige Momente in diesem Film. Zum Beispiel, als Stig versucht, seine Lammfelljacke von einem Küchenstuhl zu reißen, um ins Treppenhaus zu entkommen. Man weiß nicht, was mehr Widerstand leistet, die Jacke oder der Stuhl. Jedenfalls dauert es zu lang. Die Dramatik des Films rührt anfangs aus der Panik des illegitimen Liebhabers. Später mündet sie in das Paradox, daß die größten Konkurrenten die besten Freunde werden. Der Film von Bo Widerberg (Jahrgang 1930) – der zehn Jahre im Kino nicht auftauchte, weil sich die Mittel nicht auftreiben ließen – handelt von Leidenschaften, aber verhandelt sie als unterdrückte Konflikte.

Leitmotiv ist eine äußerst melancholische Händelarie (Lascia, ch'io pianga), die eine hitzige Liebesbeziehung zwischen jenem Stig, einem vielleicht 15jährigen Schüler, und seiner Lehrerin rahmt. Doch ist dies nur die halbe Geschichte, denn Stig verliert in dem halben Jahr seiner „Jugendzeit“ seinen älteren Bruder. Der sympathische Draufgänger, der sich als Boxer gefällt, ertrinkt mit zweiunddreißig Kameraden in einem U-Boot namens „Wolf“, das in der Ostsee in eine Mine gefahren ist.

Das Winter- und Frühjahrs-, Morgen- und Vollmondlicht macht die Gebäude und Gegenstände fest, gebräuchlich, getränkt mit Tradition. Vielleicht ist der Regisseur gelegentlich zu verliebt in die Milieubeschreibung. Zum Beispiel wird eine Szene in einem Zugabteil eingeleitet mit einer Totalen, die eine Dampflok zeigt. Acht Minuten weniger, und der Film wäre mit genau zwei Stunden rund und satt.

Die Erzählung wächst aber über die Details hinaus. Sie ist von monströser Schärfe in den Figuren, vor allem in Kjell, dem Ehemann der Lehrerin Viola, der sich als Handelsvertreter Frank nennt. Er hat alle Fenster seines Herzens geöffnet in Richtung des Grammophons, aus dem die Musik von Mahler und Beethoven tönt. Der verblüffende Clou ist, daß der Schüler Stig – vom Ehemann als Liebhaber erkannt und unter Schmerzen akzeptiert – beginnt, diese Passion mit Kjell zu teilen. Während der schwedische Staat Stigs eigene Familie mit einem Staatsbegräbnis ehrt, gerät dieser heimlich in eine andere Familie, deren widersprüchlichem Begehren er allerdings irgendwann die Antwort verweigert. Man kann nicht Lover der Ehefrau und Kumpel ihres unglücklichen Ehemannes zugleich sein. Bo Widerberg ist überhaupt auf Konstellationen spezialisiert, die irgendwie nicht aufgehen. Dazu gehört auch die Koedukation auf dem Schulhof und die getrennte Unterrichtung in den Klassen – ein Modell, ohne das diese Geschichte nicht denkbar wäre.

Malmö 1943 ist eine soziale Käseglocke, ein Treibhaus persönlicher Ambition. Es gibt einen Effekt von Ungleichheit; wie wenn die Zeit stillsteht, während jemand größer wird, oder davonrast, während er stillsteht. Stig fällt mit dem, was in der Offizialsprache reif werden heißt, in die Vergreisung. Bevor er irgend jemandem zeigen kann, was er weiß und was er hat und wie er fühlt, hat er nahezu alle Hoffnung verloren. Wie seine Soll- Sozialisation verlaufen müßte, wird in einer rührenden Parallelgeschichte gezeigt: Ein jüngeres Mädchen ersinnt die perfekte Verführung und läuft komplett auf; dann, als er sich ihm zuwendet, spürt man für einen Augenblick die offene Funktion, die „der Jugend“ zufällt. Wehe, wenn sie sich nicht entfalten kann, weil die Erwachsenen in den Nestern der Jungen brüten. Und genau das führt Widerberg vor. Dabei karikiert er natürlich auch die Pädagogik der Initiation.

Die protestantische Gemeinschaft ist dem Hedonismus – prinzipiell – verpflichtet; aber die Kosten dafür fallen auf die Hedonisten zurück. Das weiß auch Stig, für den das Schulhalbjahr auf Sitzenbleiben hinausläuft; den Verrat der Lehrerin darf er aber, das weiß er, nur im Kleinen rächen. Institutionell bleibt die Geschichte unter Wasser.

Es ist schon stark, wie Johan Widerberg in der Rolle des Stig die Verwandlung vorführt: heute nichts und morgen Phallus zu sein. Der junge Hauptdarsteller ist der Sohn des Regisseurs, der in diesem Film seine Jugend brillant metaphorisiert hat. Für „Schön ist die Jugendzeit“ bekam Bo Widerberg auf der letzten Berlinale den Silbernen Bären. Ulf Erdmann Ziegler

„Schön ist die Jugendzeit“. Regie: Bo Widerberg. Kamera: Morten Bruus. Mit Johan Widerberg, Marika Lagercrantz, Tomas Von Brömssen u.a., Schweden 1995, 128 Min.