Nachrichten aus dem Totenreich

■ „Tanztage“ am Pfefferberg: Lehmbeschmierte Nackte, weich winkende Frauen und ähnliche Attraktionen

Baustellen und Ruinen, alte Lastkähne, Keller, Lagerhallen. Vor Tanzaufführungen scheint kein Ort mehr sicher in Berlin. Die Zeiten, als das Tacheles mit seinem wunderschön-zerbröckelten Theatersaal als bizarrer Spielort für Tanz und Schauspiel das Monopol hielt in der Stadt, gehören der Vergangenheit an. Denn neben vielen nur kurz bespielten Orten, bei denen auf technisch halbwegs professionelle Ausrüstung verzichtet werden muß, gibt es auch solche, die von besonders Mutigen und Experimentierfreudigen als feste Bühnen etabliert werden sollen.

Demnächst gibt es Tanz in den Sophiensälen, wo Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Reden hielten, und schon jetzt in dem vor allem für seine Musikveranstaltungen bekannten Pfefferberg. Der Charme des Verfalls atmet auch hier aus allen Mauerritzen, und wenn es nicht ganz schlimm kommt und der Senat die angedrohten drastischen Mieterhöhungen wahr macht, wird es in Zukunft am Pfefferberg viermal im Jahr zwischen eine Woche und zehn Tage dauernde „Tanztage“ geben. Nicht die etablierten Gruppen will man präsentieren, sagt die Projektleiterin Barbara Friedrich, sondern diejenigen, die gerade erst mit der choreographischen Arbeit beginnen und händeringend und meist vergebens nach einem Aufführungsort suchen.

Wie wenig Anfängertum mit Dilettantismus gleichzusetzen ist, zeigt das Programm dieser ersten, vom 10. bis zum 19. September währenden „Tanztage“. Über Robert Poole, der einst bei Forsythe tanzte, über das Kresnik-Kompanie-Mitglied Christina Comtesse bis zu Canan Erek, die in Ankara klassisches Ballett und an der Essener Folkwangschule modernen Tanz studierte, verfügen alle zehn teilnehmenden Gruppen (beziehungsweise Solisten) über eine professionelle Ausbildung.

„Vielleicht“, sagt Barbara Friedrich, „können wir unser Konzerte besuchendes Stammpublikum auch für den Tanz gewinnen.“ Zumindest der erste Abend gibt ihr recht. Statt der geplanten rund achtzig Zuschauer drängen sich wohl mindestens doppelt so viele in den Saal.

Drei Frauen aus drei verschiedenen Ländern zeigen an diesem ersten Abend ihre höchst unterschiedlichen Soli. Sandra Trejos aus Costa Rica will in „Ahuyenta Espiritus“ Schatten und Geister verjagen, doch dann scheint sie diese mit ihren beunruhigend weichen Bewegungen eher heraufzubeschwören. Über eine Schiffsreise und ein mögliches Sinken verhandeln Stimmen aus dem Off, aber solche konkreten Geschichten hat Sandra Trejos Tanz nicht nötig – sie stören eher. In Erinnerung bleibt ein Körper, der sich in sinkenden Fluten in reinstes Wasser verwandeln könnte.

Das andere Ende von Weiblichkeit führt danach die Kresnik-Tänzerin Christina Comtesse im gekachelten Keller des Pfefferbergs vor. Statt roter Rosen, Opernarien und Meeresphantasien gibt es hier ein Spiel mit gefährlich spitzen Scherben. Scharf, laut und gefährlich geht es zu. Die Tänzerin hat ihre Arme und Füße mit weißen Verbänden umwickelt, beschmiert ihr Gesicht mit rotem Lippenstift, attackiert die Zuschauer und huscht unter wilden Verrenkungen und irrem Gelächter in weiß wehendem Gewand durch die bizarr ausgeleuchteten Kellerflure. Ob jemand, der in der Psychiatrie war, seine Erfahrungen ästhetisch so verarbeiten würde? Zu aufdringlich wirkt alles, zu aufgedreht.

Mindestens ebenso extrem, aber völlig ruhig geht es dann zum Abschluß bei Canan Erek zu, die an diesem Abend den tiefsten Eindruck hinterläßt. Die türkische Choreographin hat sich von ihrer klassischen Ausbildung Lichtjahre entfernt, und ihr vom Butoh-Tanz inspiriertes Solo „Rose“, eine Hommage an einen verstorbenen Freund, wie es im Untertitel heißt, scheint Nachrichten aus dem Totenreich zu vermitteln. Nackt und lehmverschmiert hängt die Tänzerin in einer Gummischlaufe in einem pyramidischen Stangengerüst. Kurze Lichtspots zeigen die Tänzerin in veränderten Positionen, zentimeterweise verschiebt sie ihren Körper, der zunehmend immaterieller erscheint.

Heute und morgen geht es mit Diquis Tiquis aus Costa Rica weiter, die, wie schon vor zwei jahren, „Shy Shining Walls“ zeigen. Spanisches wird dann Carmen Luna geben, die dem Dichter Federico Garcia Lorca ein Tanztheaterstück gewidmet hat. Robert Poole macht sich über Fenster und andere Öffnungen Gedanken, Gernot Frischling versucht sich in Körperskulpturen, und am Ende kann man auf Gisela Müllers work in progress- Vorführung gespannt sein und auf die Tanz- und Kampfkunst verschmelzende MarTa Company. Michaela Schlagenwerth

Diquis Tiquis: 12. und 13. 9., 21 Uhr, Pfefferberg, Schönhauser Allee 176