Zufälliges Reiseziel

Besuch bei einem Menschenaugenhersteller  ■ Von Gabriele Goettle

Nach dem morgendlichen Bad in einem ausgesprochen kalten Gebirgsbach fühlt man sich hin- und hergerissen zwischen begeistertem Erfrischtsein und drohendem Herzschlag. In solchen Momenten kommt ein wenig Sehnsucht auf nach den Vorzügen eines Fremdenzimmers, doch nur für kurze Zeit, denn was erspart man sich nicht alles durch den Verzicht darauf: allein schon das Koffertragen, von den Kosten ganz zu scheigen, dazu schlechte Betten, eingeschweißtes Frühstück und falschen Tee. Hier hingegen stehen wir ungestört auf einem romantischen Forstweg, das Erforderliche führen wir im Wagen bei uns und am Ufer gibt es sogar Tisch und Bank; eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, roh zusammengezimmert. Ergriffen von der wunderbaren Erwärmung unserer Mägen, durch Spiegeleier und heißen Earl Grey Tee sitzen wir mitten im Wald. Streiflicht fällt zwischen den Baumstämmen hindurch auf Steine und Moos, das Wasser glitzert, und von der Straße her bewegt sich ein organgefarbenes Fahrzeug auf uns zu.

Ein weiterer Vorzug des ambulanten Herumstreifens ist die Vielzahl von zufälligen Begegnungen, die sich bei geordneten Reiseverhältnissen niemals ergeben hätten. Und oft ist es geradezu so, daß sich die Reiseroute durch fremden Ratschlag spontan ändert, wir folgen dem Wink des Zufalls und sind gespannt auf das, was wir finden werden. Auch diesmal ist die Begegnung interessanter, als es auf den ersten Blick scheint. Zwei orangefarben gekleidete Männer steigen aus, einer ist grauhaarig, der andere hellblond und trägt einen Ohrring. Die haben Thermoskannen und Brote dabei. „Wir wollten nicht stören“, sie setzen sich zu uns, fragen nach dem Woher und Wohin. Der Ältere beißt in sein dick belegtes Käsebrot, schenkt sich Kaffee ein und sagt: „Nun sehnse mal, wir machen hier jeden Tag unsere Frühstückspause und haben noch nie einen Menschen angetroffen, und nun gleich zweie aus Berlin!“ Solche Bemerkungen relativieren natürlich das eigene Selbstverständnis von Nähe und Ferne. Es ist wie mit dem Blick durch das umgedrehte Fernglas. „Wir sind von der Straßenwacht“, erklärt der Ältere, während der junge Mann sich eine Zigarette anzündet und den Rauch durch die Nasenlöcher ausbläst, „sommers wie winters fahren wir hier unsere Strecke ab, kontrollieren auf Schäden, da kann so allerhand zusammenkommen, vom Steinschlag bis zum Schneerutsch im Winter, auch Bäume liegen schon mal quer über der Bahn.“ Beide, so erfahren wir, waren vor der Wende Glasbläser, dann wurden sie im Zuge der Abwicklung ihrer Betriebe arbeitslos und fanden, damals war das noch möglich, sofort Arbeit bei der Straßenwacht. Der junge Mann stammt aus Lauscha und erzählt uns ein wenig über die Glasbläserstadt, daß dort alle früher „vom Glas“ gelebt hätten und heute die meisten arbeitslos oder in vollkommen anderen Berufen seien. „Vieles ist schlechter geworden nach der Wende“, sagt der Ältere, und der Junge fügt hinzu: „Ein Beispiel nur, mein Onkel, der hat ein Glasauge seit seinem 20. Lebensjahr. Durch einen Unfall hat er sein rechtes Auge verloren. Früher, bei uns, da war's so, daß er, wenn's ihm mal runtergefallen und kaputt gegangen war, gleich hingehen konnte zur Augenprothetik und sich ein neues machen lassen. Heute muß es Minimum soundso lange halten. Wenn nicht, hat er Pech gehabt! Muß aus der eigenen Tasche... oder meterlange Anträge ausfüllen oder ganz ohne! Sollte nicht alles besser, einfacher und leichter werden für die Bürger? Na, der Kleine ist überall der Dumme!“ Er empfiehlt uns, Lauscha anzuschauen und schreibt uns die Adresse des Glasaugenmachers auf. Dann fahren sie davon.

Lauscha

Das Städtchen liegt 640 Meter über dem Meeresspiegel. 1910 hatte es laut Meyers Konversationslexikon 5.007 Einwohner. Zu DDR- Zeiten waren es 6.000 und heute sind es noch etwa 4.000. Einige davon fahren um vier Uhr morgens zu weit entfernten Arbeitsstellen und kehren abends erst nach 18 Uhr zurück. 1997 feiert Lauscha das 400jährige Jubiläum seiner Glashüttenindustrie, die mittlerweile nur noch in Rudimenten vorhanden ist und ums Überleben zu kämpfen hat.

Der Ort ist hineingebaut in den natürlichen Verlauf eines Tales, zieht sich an den sonnigen Hängen hinauf und ist umgeben von Wäldern. Ein eigenes Skigebiet mit Sprungschanzen und Rodelbahn sorgt in den Wintermonaten für zusätzlichen Fremdenverkehr. Mitten in dieser klaren, hellen Luft stehen echsenhaft die mit graublauen Schieferschindeln benagelten Häuser. An ihnen ist kein anderer Zierrat zu sehen als die weißen Fensterumrahmungen und schuppenartig verlegten Schindelmuster. In den kleinen Gärten blühen die Rosen. Die Ortschaft wirkt aber weder dörflich noch eigentlich kleinstädtisch, es fehlen hier übliche Prunkbauten aus den verschiedenen Zeiten wirtschaftlicher Prosperität. Alles ist von fast norddeutscher Schlichtheit und ausgesprochen winterfest. Die Hauptstraße heißt Straße des Friedens und führt am großen Schornstein der Farbglashütte vorbei, hinunter zur einzigen Kreuzung, dem Hüttenplatz. Ab hier heißt sie Bahnhofstraße. Rund um den Platz findet man all die Einrichtungen, die trotz der schmalen Ortsmitte ein Zentrum ergeben: Kirche, Kulturhaus, Glasmuseum, Rathaus, Schule, Bahnhof, Sparkasse und Post. Von letzterer aus rufen wir den Glasaugenmacher an, und er ist nach kurzem Sträuben bereit, uns am Nachmittag zu empfangen. Er ist übrigens nicht der einzige Augenoptiker, sehen wir im Telefonbuch. Außer Menschenaugen werden auch noch Puppen- und Tieraugen hergestellt, desweiteren industrielle Glasaugen. Im Zentrum reiht sich Glasbläserladen an Glasbläserladen. Mancher mit der Aufschrift „Glasdesign“ oder „Glasstudio“. Sie sind von arbeitslosen Existenzgründern nach der Wende eröffnet worden – darunter sind erstaunlich viele Frauen – und sie alle buhlen um die Gunst der Reisebustouristen, die zu einem „Abstecher“ vorgefahren werden. Entsprechend ist das Angebot. Die Schaufenster und Vitrinen sind angefüllt mit Mundgeblasenem, das aussieht wie Konfektionsware: Vasen, Ziergläser mit spiralig erstarrten Stielen, Römer, Rosenkugeln, Christbaumschmuck und Glasfiguren. Alles in vorwiegend schreienden Farben oder aufdringlicher Musterung. Die Kunstbläser sitzen in den Geschäften zwischen ihren zerbrechlichen Waren und formen in der zischenden Stichflamme ihrer Gebläselampen die immer gleichen Hähne, Pudel, Elefanten, Schwäne und rauchgrauen Panther. Manchmal, mitten im Schmelz- und Formungsprozeß, möchte man ausrufen: „So muß es bleiben!“ Aber schon ist der Schwanz viel zu buschig, der Hals viel zu gewölbt und jener Moment des naiven Ausdrucks ist unwiderbringlich dahin.

Im Museum für Glaskunst hingegen kann man sich an frühen Glasfiguren wirklich ergötzen. Sie stammen aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und wurden von Heimarbeitern zum eigenen Vergnügen hergestellt. Nun stehen sie in den Glasvitrinen, die hohlgeblasenen Musikantinnen und Musikanten aus hauchdünnem Glas, der Bärenführer mit Bär und Tamburin, die Obstpflücker auf dem Birnbaum, der Jäger mit schwarzweißgeflecktem Jagdhund und dem übergroßen durchsichtigen Hirsch. Das gelbliche Licht der Lampen fällt sanft auf die kleinen, zuckrig erstarrten, stummen Gestalten. Alle gläsernen Blättchen der gläsernen Bäume schimmern grünlich, und ein milchig weißes Pferd zieht mit gespitzten Ohren einen zierlichen Glaskarren, auf dem ein milchig weißer Kutscher steht, der eine sich ringelnde, gläserne Peitsche schwingt. Alle Figuren und auch die Tiere haben einen irgendwie erstaunten Gesichtsausdruck, so als seien sie gerade erst zu sich gekommen. Und so war es ja wohl auch. Die Figuren verschwanden in der serienmäßigen Produktion von gläsernen Perlen, Christbaumschmuck und Panoramakugeln – übrigens allesamt Lauschaer Erfindungen – bis sie später wieder auftauchen, nicht mehr hohlgeblasen, sondern massiv. Im Museum gibt es auch eine kleine Sammlung von künstlichen Menschenaugen aus verschiedenen Zeiten.

Glashütte

Das Glasauge wurde hier in Lauscha 1835 von einem Glasbläser namens Ludwig Müller-Uri erfunden. Seine ersten Augen bemalte er in einer Art Hinterglasmalerei, später wurden Iris, Pupille und Äderung mit farbigen Glasstäben von vorn aufgeschmolzen. Lange Zeit wurde die Technik der Glasaugenherstellung von der Familie Müller-Uri geheimgehalten und nur an Söhne und Neffen weitergegeben. Die zogen noch zu Lebzeiten des Erfinders von Lauscha fort, um in Leipzig, Wiesbaden und Berlin die neue Technik zu lehren. Nach einem fast gleichen Verfahren wurden hier auch die Tieraugen hergestellt, um sie den ausgestopften Trophäen der Jäger einzusetzen. Und später fanden sie zusammen mit den Puppenaugen Verwendung in der aufstrebenden Spielzeugindustrie. Ich habe einen sehr alten, ausgestopften Fuchs mit goldgelben Glasaugen gesehen. Die rechte Vorderpfote war leicht angehoben – das tun sie, wenn sie lauschen. Dieser Fuchs war längst tot, sein Jäger war längst tot, ebenso Präparator und Glasaugenmacher, aber der feuchte Glanz der Augen, das Farbenspiel der Iris, die vor Erregung geweiteten Pupillen belebten das steife staubige Fell. Um diese Illusion des Blicks hervorzurufen, um Augen aus Glas machen zu können, benötigt der Glasbläser – neben Können – spezielle Glasröhren und Glasstäbe. Die werden in der Glashütte hier im Ort produziert.

Die Farbglashütte Lauscha, 1820 gegründet, arbeitet heute mit einer aus VEB-Zeiten übrig gebliebenen, drastisch reduzierten Belegschaft unter einem branchenfernen Chef aus Süddeutschland. Vor den heißen Schmelzöfen stehen die meist jungen Arbeiter und drehen ihre schweren Glasbläserpfeifen mit den daranhängenden, rotglühenden Glasblasen. Sie blasen Glaspfeifen, drehen im Akkord die verformbare Blase auf dem Wälzblock und versenken sie dann in eine hölzerne Form. Heraus kommen Vasen und Glasgefäße, wie man sie überall in den Kaufhäusern sieht. An der rückwärtigen Feuerstelle des Schmelzofens aber wird erzeugt, was der Glasaugenhersteller braucht. Dazu genügen zwei Mann. Einer der Röhrenzieher entnimmt einen fünf Kilo schweren, weißgelbglühenden Glasbatzen aus dem Ofen, balanciert ihn geschickt auf der kleinen Fläche eines runden Metallstempels, wobei er die Eisenstange wegen der Hitze ziemlich weit hinten anfassen muß, was das Gewicht des Klumpens ungünstig ins Spiel bringt. Nun kommt der zweite Röhrenzieher mit seinem Stempel, drückt ihn auf die Masse, die haften bleibt, und dann entfernen sich die beiden Männer Schritt für Schritt rückwärts gehend voneinander. Die gläserne Masse zieht sich zwischen ihnen, pendelt leicht und beginnt zu erstarren. Es erfordert große Kunstfertigkeit, mittels wohldosierten Ziehens quer durch die ganze Fabrikhalle eine gleichmäßig dicke, 68 Meter lange Stan

Fortsetzung

Fortsetzung

ge zu erzeugen. Beide Männer arbeiten hochkonzentriert, aber mit einer gewissen Lässigkeit, die sich im leichtfüßigen Hin- und Hergehen zwischen den am Boden liegenden, bereits gezogenen Stangen ausdrückt. Das Produkt dieser Arbeit hat seinen Preis. Der Zentimeter kostet zwischen einer bis drei Mark, je nach Beschaffenheit.

Augenprothetikermeister Hans Greiner-Lar

Das Haus liegt etwas abseits der Hauptstraße, ist schlicht und schieferverkleidet. Ein kräftiger, braungebrannter älterer Herr empfängt uns per Handschlag und führt uns parterre in seinen recht unaufgeräumten Arbeitsraum. Die Zeichen westlichen Wohlstands – Computer, Funktelefon, weiße Lamellenjalousie, Vitrine, Ledersessel – verschwinden optisch fast im Ambiente aus DDR-Zeiten. Möbel, Zeitschriften, Bücher, Büsten, Modell- und Musterkästen prägen den Raum ebenso wie ein großer Arbeitstisch mit der Gebläselampe zum Schmelzen des Glases. Die Tischplatte ist übersät mit weißen Glasröhren und Glasstäben, sie liegen kreuz und quer zwischen Büchsen, Behältern und Werkzeugen. Mittendrin verstreut, mit ernstem Blick, zahllose Glasaugen. Einige bereits schalenförmig flach, andere noch unfertig und kugelförmig auf ihren Stäben sitzend, aufgespießt in Styropor.

Er reicht uns ein dünnes gelbes Glasstäbchen und erklärt: „Das sind die Rohfarben von der Glashütte her, die mische ich mir zusammen für die Iris. Manches ist heute noch so wie vor 200 Jahren, im Prinzip. Nur daß früher die Flamme mit Rüböl betrieben wurde, und den Sauerstoff dazu hat man mit einem Lederbeutel, mit einer Art Dudelsack, zugeführt. Den hatte der Glasbläser unter den linken Arm geklemmt. Aber die Hitze kam dabei nicht so richtig zustande. Dann kam die Glasbläserlampe, die wir heute noch benutzen. Wir arbeiten mit einem Luft-Gas-Gemisch und bekommen so 800 bis 1.000 Grad. Also ich mache das Ihnen mal vor! Ich blase Ihnen Ihr Auge, damit sie es anschaulich vor sich sehen.“ Er setzt sich an seinen Arbeitstisch, sucht zwischen den Glasstäbchen herum und schaut beim Sprechen über den Rand seiner Brille.

„Also, was man braucht ist Erfahrung. Schon beim Hinsehen. Das muß ich alles im Gefühl haben, die individuelle Form, Farbe, Größe. Bei der Patientenanfertigung habe ich ja die Augenhöhle direkt vor mir, kann mir das ansehen, das ist die eine Sache. Dann habe ich meine Modelle, da suche ich mir erst mal das Passende aus. So müssen Sie sich das vorstellen mit dem ersten Schritt.“ Dann bildet er mit Daumen und Zeigefinger eine schlitzartige Öffnung, legt von hinten ein Glasauge hinein und ruft, erfreut über unsere Verblüffung: „Sehnse, das wirkt echt! Und was Sie noch sehen können, das kleine Auge wirkt genauso wie das große Auge. Im Durchschnitt ist ein Augapfel 24 Millimeter dick, aber hier ist entscheidend, was dahinter liegt, die Augenhöhle, das Gewebe, dem passe ich mich an. Und dann kommt das ganz Individuelle dazu: Also, will mal sagen, wenn jemand zu vielen roten Äderchen neigt oder gelben Flecken, bei Weintrinkern beispielsweise, da wirkt die Sklera fast rötlich. Nach all diesen Kriterien fertige ich dann mein Auge an. Aber man muß sie eben vor sich haben, die Eigentümlichkeiten. Ne kleine Story erzähle ich Ihnen zu diesem Problem: Da kam mal das Naturkundemuseum von New York, die brauchten für einen ausgestopften Orang-Utan Augen. Die Orang- Utans haben ja ähnliche Augen wie wir, nur die Sklera liegt etwas verborgener. Na ja, die hatten also diese Augen bestellt, genau die Größe angegeben, die Farbe, und ich habe mich an die Arbeit gemacht. Das war ein merkwürdiges Gefühl, daß ich nun plötzlich auf Affenaugen hinunterschaute. Ich habe dem Kunden dann ein paar zur Auswahl geschickt, und sie waren sehr zufrieden. Dort drüben in dem Musterkarton können Sie sich die Reste ansehen.“ Und tatsächlich, die Orang-Utan-Augen sehen aus wie Menschenaugen, mit rötlich-bräunlichem Farbton.

„Wissen Sie überhaupt“, fährt er fort zu erzählen, „daß Blau, also richtiges Blau, die allerseltenste Augenfarbe beim Menschen ist? Wo es doch immer heißt bei den Deutschen, sie wären blond und hätten blaue Augen. Alles Unsinn! In Süddeutschland und Österreich überwiegen schwarzgraue und schwarzbraune Töne. In Mitteldeutschland überwiegen die Mischfarben und sogar in Norddeutschland sind die Augen vorwiegend grau und graublau. Viele nennen das einfach blau. Würde man aber ein wirkliches Blau daneben halten, könnte sich jeder vom Gegenteil überzeugen. Das hat sich so eingebürgert, das mit den Rassen, Nationen und Augenfarben. Wir denken zum Beispiel immer, daß Afrikaner schwarze Augen hätten, dabei haben sie mittelbraune Augen, sie wirken nur dunkler durch die Hautfarbe und die dunklen Wimpern. Und auch die Sklera beim Erwachsenen ist nicht von strahlendem Weiß, sondern sie spielt mal mehr, mal weniger ins Gelbliche, ins Graue. Wie altes Elfenbein. Ja, und wenn ich mir Ihre Augen so ansehe, so haben Sie eine ziemlich weiße Sklera, und die Iris hat direkt um die Pupille einen gelblichen Ton, der dann ins Graue übergeht, wodurch das Auge grünlich schillert. ,Berliner Farbe‘ sagen wir dazu. Die Kinder werden ja mit graublauen Augen geboren, erst allmählich kommt die Farbe. Das Graublau, das sind die Grundfarben der Iris, und die verschiedene Färbung entsteht nicht durch eine verschiedene Pigmentierung, sondern durch die verschiedene Verteilung der Pigmente in der Iris. Gut, das ist also das Problem der Färbung, aber schwierig ist sehr viel mehr die Form der Prothese, denn sie muß sich unter dem Lid ja in natürlicher Weise wölben, muß das Lid richtig offenhalten. Dann darf sie nicht starr liegen, sie muß sich möglichst viel mitbewegen, mit der Blickrichtung des anderen Auges. Aber das hängt natürlich weitgehend davon ab, wie viele Muskelstümpfe noch da sind. Also das ist eine richtige Feinarbeit. Der Patient sitzt mit seinem einen Auge vor mir und schaut zu, wie ich ihm sein zweites mache. Und ich berücksichtige alles Mögliche, damit es am Ende wirklich echt aussieht. Wenn einer beispielsweise etwas grauen Star hat, dann mache ich bei der Glasfärbung etwas Star hinein. Aber keine Angst, Ihnen mache ich keinen Star in Ihr Auge.“

Er hat mit dem Feuerzeug die Stichflamme entzündet, sie faucht ein wenig. Dann hält er ein milchig weißes Glasröhrchen in den Schnittpunkt der Flamme, bläst vorsichtig hinein. Eine langsam wachsende Blase entsteht, die durch Saugen und Blasen in eine dralle Form gebracht wird. „Vorn, quasi auf den Augapfel, wird dann mit farbigen Glasstäbchen zuerst die Iris und dann die Pupille aufgeschmolzen. „Sehen Sie, das wird richtig gemalt“, erläutert er, „ich lege die Farben übereinander wie bei einer Lasurmalerei. Bei Ihrer Kollegin brauche ich eine dunkelgraue Färbung mit etwas Gelb. Wissen Sie, wer mir immer ein Vorbild war? Der Maler Menzel, der konnte einen Uniformknopf so malen, daß man glaubt, man könnte hinfassen. Und vielleicht, denke ich manchmal, habe ich Spuren davon erreicht, wenn ich von meinen Patienten höre, daß sie stolz sind, wenn die Sprechstundenhilfe beim Augenarzt das gesunde Auge für das Kunstauge hält.“ Er hat jedem von uns ein Glasauge gemacht, aber wir dürfen noch nichts anfassen, sie müssen erst abkühlen.

„Meine persönliche Entwicklung“, sagt er nachdenklich, „die war, wie soll ich das denn jetzt schnell erklären... Also der Vater war im Krieg, und ich hatte keine Lehrstelle, und da habe ich hier in Lauscha die Glasfachschule besucht. Mittendrin wurde ich eingezogen und bin mit Siebzehn in Gefangenschaft geraten. Mit Einundzwanzig kam ich wieder raus, und erst dann konnte ich meinen Beruf richtig erlernen. Ja, was soll ich sagen, ich war im Staatsbetrieb, fast dreißig Jahre davon in Ostberlin. Unsere Außenstelle war ganz nah am Haupteingang der Charité. Das war eine schöne Zeit! Wir haben auch Solidaritätsarbeiten gemacht, zum Beispiel: Ein kleines Mädchen aus Chile hatte eine entstellende Augenverletzung und wurde in der Charité operiert. Sie kam dann zu mir und war sehr ängstlich, ließ keinen an sich ran. Da habe ich ihr einen kleinen Pinguin aus Glas gemacht, und nun ließ sie mich an ihr Auge ran zum Anpassen der Prothese. Heute ist sie eine junge Frau, vielleicht hat sie den Pinguin noch, wer weiß...

Nach der Wende habe ich mich selbständig gemacht, ich wollte nicht tatenlos herumsitzen. Ich habe eine kleine Ferienwohnung eingerichtet, denn ein Teil meiner früheren Patienten aus Berlin kommt immer noch zu mir. Die kann ich dann da unterbringen, dadurch entstehen ihnen nicht so viele Kosten. Es ist ja nun alles viel teurer als früher. Zu DDR-Zeiten haben wir erheblich billiger arbeiten können. Heute bezahlt mir die AOK so 200 Mark bis 250 Mark – je nach Schwierigkeitsgrad – für eine Prothese, und in den USA, habe ich mir sagen lassen, kostet eine Glasprothese sogar 2.000 Dollar. Wer kann sich das leisten? Für die Reichen ist das natürlich kein Problem, und es gibt ja auch Reiche und Berühmte, die ein Auge verloren haben, so wie beispielsweise der Columbo aus dieser amerikanischen Serie. Und bei uns der Frank Elstner, der trägt ja auch ein Glasauge, wußten Sie das? Was, den kennen Sie nicht, das ist doch einer Ihrer berühmtesten Fernsehlieblinge! Na egal, jedenfalls er war mal bei mir. Sein Auge ist erblindet, er hat zwar den ganzen Konus noch, der ist aber geschrumpft. Und schauen Sie sich ihn mal an im Fernsehen, da sehen Sie nichts, wenn der Mann auftritt vor seinem Publikum. Und die drei Fotos, die Sie dort an der Wand sehen, das sind Kinder, die waren von früher Kindheit an blind, haben ihre Augen verloren durch Unfall. Oder dort: Die Frau auf diesem Foto hatte einen Tumor und brauchte deshalb die Prothese. So was ist besonders schwierig, denn oft ist nicht nur das Auge verloren, sondern auch Knochensubstanz. Für solche Fälle – Sie können das schön an diesem Gipskopf betrachten – gibt es die Epithese. Nehmen Sie ruhig die Brille runter vom Kopf, so, jetzt sehen Sie die leere Augenhöhle. Das ist ein älteres Modell, heute sind die Materialien besser, unsichtbarer, man kann ganze Partien mit einer Prothese überdecken. Heute befestigt man die Epithesen nicht mehr am Brillengestell, sie können mit einer Art Druckknopfsystem enganliegend angedrückt werden.

Wie ich schon gesagt habe, jeder braucht seine ganz individuelle Prothese. Das ist ein Handwerk, das wird nie aussterben. Früher waren ja viele der Patienten Kriegsbeschädigte aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Besonders im Ersten Weltkrieg haben ja all die vielen schweren Augenverletzungen, die damals angefallen sind, dazu führt, daß die Augenprothetik sich sprunghaft entwickeln mußte! Heute werden weltweit auch Augen aus Kunststoff gemacht. Die Kunststoffaugen wurden im Zweiten Weltkrieg in Amerika aus zahnprothetischem Material entwickelt, denn der Amerikaner war ja von uns abgeschnitten in dieser Zeit. So ist das Kunststoffauge entstanden. Es hat gegenüber dem Glasauge nur den Vorteil, daß es nicht zerbricht beim Runterfallen und nicht so empfindlich ist gegen Säuren. Aber die Menschen wollen sie nicht. Wer einmal ein Glasauge hatte, der will nie mehr was anderes! Und das, obwohl die Glasaugen wegen der dauernden Sekretion schneller stumpf werden und alle ein bis zwei Jahre erneuert werden müssen. Manchmal sogar öfter, durch die Schadstoffe, die überall in der Luft sind heute. Früher haben die Prothesen doppelt so lange gehalten. Ich will Ihnen das mal zeigen, sehnse mal, hier in diesem Schächtelchen, die beiden Augen, vollkommen abgenützt, an dem ist sogar ein Stück abgestoßen, streichen Sie da mal rüber über die Oberfläche, spüren Sie es? Hier, vergleichen Sie mal mit einem neuen Auge, fühlen Sie den Unterschied? Sehnse! Nun stellen Sie sich das mal auf Ihrer empfindlichen Schleimhaut vor. So, das schenke ich Ihnen auch noch, es liegt sowieso hier seit zehn Jahren nur rum. Das war mal das rechte Auge eines Bestarbeiters, eines Werkzeugmachers mit Metallsplitterverletzung.“ Ein graublaues Auge, mit kleiner Pupille und stechendem Blick, liegt kühl in meiner Handfläche.