Was die Wahrheitsfindung durchkreuzt

Abgründiges Debüt: Ernst-Wilhelm Händler beobachtet in seinem Erstlingsroman „Kongreß“ die blinden Flecken der Wissenschaft in einem philosophischen Institut – und wartet mit einer beängstigenden Erlösungsphantasie auf  ■ Von Jörg Lau

Unter dem wenigen, was sich mit einiger Gewißheit über diesen eigenartigen Roman aussagen läßt, sticht heraus, daß er zu weiten Teilen an der Münchener Universität spielt, und zwar in der philosophischen Fakultät. Damit liegt die Folgerung nahe, daß es sich um eine campus novel handele, stehen doch Intrigen zwischen den beiden Instituten für Philosophie, aus denen einem ministeriellen Sparplan gemäß eines werden soll, zunächst im Mittelpunkt der Erzählung.

Auch hat der Autor einige Fährten in die Richtung eines Schlüsselromans gelegt. Die Ähnlichkeiten der den beiden Instituten vorstehenden Professoren und ihrer Entourage mit etlichen Personen sind, wo nicht beabsichtigt, wohl unvermeidlich. Die Rivalität der beiden ist jedenfalls mit großer Kenntnis der Szene geschildert: „Der Professor“, den wir nur unter seinem Titel kennenlernen – ein strenger analytischer Philosoph in der Spur der Carnap, Frege, Quine und Wittgenstein –, muß sich gegen den Kollegen Sonnabend behaupten, der in den Massenmedien als universaler Sinnhuber reüssiert – seine Aufsätze handeln von „Gentechnik und philosophischer Ethik“, „kategorischem Imperativ und Neutronenbombe“ oder „Weltgeist und ökologischem Gedanken“. Sonnabend und sein Assistent Kowalski sind vielleicht gar ein bißchen zu leicht zu entschlüsseln – da haben unverkennbar der katholische Philosoph Robert Spaemann („er ist aufgeklärt konservativ, und er ist christlich“) und der ihm nahestehende intellektuelle Luftikus Peter Koslowski (!) Modell gestanden. Man kann sich die wechselseitige Verachtung der beiden Schulen ausmalen, die sich hier als kalte Ingenieure der Rationalität respektive begriffsschludernde Feuilleton-Nutten gegenüberstehen. Dies wäre eine ideale Konstellation für einen Campus- Roman. Man denke nur, was der Meister des Genres, David Lodge, daraus gemacht hätte. Unser Autor allerdings hat, wie bald klar wird, etwas anderes vor.

Ernst-Wilhelm Händler, der Mittvierziger, dessen erster Roman dies ist, lebt in Regensburg als Geschäftsführer einer familieneigenen Firma. Er hat Wirtschaft und Wissenschaftstheorie studiert und, wie man lesen konnte, seine Doktorarbeit über „Logische Struktur und Referenz von mathematisch-ökonomischen Theorien“ geschrieben. Solche Tätigkeiten gelten zu Unrecht allgemein als literaturfern. Händler ist angetreten, dieses Vorurteil zu widerlegen. Da seinerseits bislang keine poetologischen Bekenntnisse vorliegen, greife ich zur Selbsterklärung eines berühmten Kollegen, die auf den Punkt bringt, wie Händler Literatur und Wissenschaft in Beziehung setzt: „Dieser Roman hat zur Voraussetzung, daß die Literatur mit jenen menschlichen Problemen sich zu befassen hat, die einesteils von der Wissenschaft ausgeschieden werden, weil sie einer rationalen Behandlung überhaupt nicht zugänglich sind und nur mehr in einem absterbenden philosophischen Feuilletonismus ein Scheinleben führen, andererseits mit jenen Problemen, deren Erfassung die Wissenschaft in ihrem langsameren, exakteren Fortschritt noch nicht erreicht hat.“ So hat Hermann Broch seinerzeit die Trilogie „Die Schlafwandler“ angekündigt, und auf Händlers Roman, ebenfalls Teil eines geplanten Zyklus, paßt dieses Programm ebenso gut.

Die Literatur, wenn sie wie dieser Roman die Wissenschaft beobachtet, kann deren blinde Flecken sehen und sie mit dieser Beobachtung konfrontieren. Händler konstruiert aus seinen Beobachtungen ein System von Oppositionen, in dem sich sein Personal mehr und mehr verheddert findet: Der „Professor“ sieht sich in seinem asketischen Rationalismus von seinem Körper eingeholt – ein Krebsgeschwür bedroht die Vollendung seiner Arbeit; ein junger Wissenschaftler, der dem Traum der „einen widerspruchsfreien und vollständig wahren Theorie“ anhängt, muß erkennen, daß die Wissenschaft ein Machtspiel von Intriganten ist, die von allem möglichen, nur nicht von Wahrheitseifer angetrieben sind. Schlimmer noch: Sein Traum von der „einen Theorie“ zeigt sich ihm selbst als Symptom philosophischer Machtbesessenheit, denn konsequent verwirklicht führte er zur apokalyptischen Situation eines einzigen Überlebenden, der im Bunker seines Denkens verschanzt hockt, während die sonst stets Einspruch erhebende Welt restlos ausgelöscht und damit endlich zum Schweigen gebracht wäre. Der junge Philosoph hat bei dem titelgebenden Philosophenkongreß erleben müssen, wie ein Fachkollege sich plötzlich gegen ihn wandte, um ihn im Namen der Wissenschaft niederzumachen. Das macht empfindlich für die untergründigen Energieströme, die das Unternehmen der Wahrheitsfindung durchkreuzen – die Körper, die Träume, Sex, Macht, Gewalt, Tod.

Aber solche Desillusionierung ist nur die eine Seite dieses vertrackten Romans. In einem zweiten Teil erzählt Händler von einer Gruppe von Menschen, die zusammen einen anderen „Kongreß“ bilden – was diesmal metaphorisch als eine „Zusammenkunft“ verstanden werden soll, als eine Gruppe von Leuten, die sich zusammengefunden haben, um sich gegenseitig zu helfen. Das lateinlehrerhafte Spiel mit dem Titel läßt freilich nichts Gutes ahnen.

Die Beteiligten sind teils aus der ersten Hälfte bekannt. Der abgeschmetterte Wissenschaftler ist einer von ihnen, auch Kowalski gehört dazu, nebst zwei Schwestern namens Nelly und Elsi. Mit letzterer hat Kowalski eine Affäre, im Mittelpunkt aber steht der verhaltensgestörte Emanuel, ihr Bruder.

Man darf dem biblischen Klang dieses Namens ruhig nachlauschen, denn im Roman folgt nun auf die Dekonstruktion der Wissenschaft die Errichtung einer höchst seltsamen schwarzen Theologie. Emanuel ist bekanntlich, nach einer Prophezeiung des Jesaja (Jes. 7,14), der Name des Sohns, den die Jungfrau gebären wird. Er bedeutet wörtlich „Gott mit uns“. Emanuel wird „Butter und Honig essen bis zu der Zeit, in der er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen.“ (Jes. 7,15)

Eben dies kann der Emanuel unseres Romans nicht, der jenseits solcher Unterscheidungen lebt: „Emanuel sprach schlecht oder gar nicht davon, was er tat oder war. Emanuel war fast namenlos anwesend. Warum ihn nachträglich benennen. Warum sagen, Emanuel sei die absolute Person, die als solche allem, was sie als das von ihr Unterschiedene setzt, in absoluter Freiheit gegenübertritt, er sei das absolute Sein, der absolute Grund, das absolute Geheimnis, das absolute Gut, der absolute endgültige Horizont...“ Dieser Emanuel erreicht also in seiner Seinsweise das, wonach die Philosophen vergebens streben, die Einheit: „Emanuel stellte nicht nur die Einheit von Freiheit und Verfügtheit dar, Emanuel war die Einheit von Freiheit und Verfügtheit.“ So sieht ihn jedenfalls seine Schwester Nelly, die von ihm auf schaurige Weise ermordet wird. Wir werden dazu angehalten uns vorzustellen, daß Nelly sich von ihrem Bruder freiwillig und dankbar hat töten lassen, und zwar durch eine Kombination von Stichen zuerst mit einem Besenstiel und schließlich mit einem Messer.

Dieses krude Evangelium mit dem tumben Erlöser-Killer im Zentrum wird nun, anders als der erste Teil, in einer demonstrativ multiperspektivischen und nichtlinearen Erzählweise dargeboten, die geduldigere Leser als ich für „hohe Experimentierkunst“ (Süddeutsche Zeitung) halten mögen. Bezeichnenderweise hat der enthusiastische Rezensent, von dem dies Urteil stammt, von der Erlösungstat, von dem zweimal krass beschriebenen Mord, keine Notiz genommen. Ich halte dagegen, daß man auf den letzten hundert Seiten eher die hohe Kunst stilistischer Nebelwerferei bewundern kann, vorwiegend zu dem Zweck betrieben, daß die aufgewirbelten Schwaden gnädig die Krausheiten verdecken mögen, die Händler uns hier auftischen will. Er wird das selber gemerkt haben.

Die Literatur kann beobachten, wie die Wissenschaft sich vor dem Leben blamiert. Wenn sie im Überschwang ihrer Einsichten versucht, diese zu übertrumpfen, blamiert sie sich selber.

Ernst-Wilhelm Händler: „Kongreß“. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, 346 Seiten, geb., 42 DM