Frankfurt im Herbst
: Umhüllt, umspült

■ Vergesellschaftung durch Klatsch: Auf der Buchmesse nehmen alle am Ringelreihen im deutschen Feuilleton teil

Die Soziologen haben den Klatsch nicht von ungefähr in eben jenem Moment als würdiges Thema ihrer Forschungen entdeckt, in dem die Netzwerke für die global vernetzte Kommunikation unter Abwesenden immer dichter geknüpft werden.

Die Medienwelt, in der virtuell alle Menschen mit allen Menschen Informationen austauschen, ohne sich je zu begegnen, zugleich verbunden und doch abgeschottet hinter ihren Bildschirmen und Monitoren, ist von einem kulturkritischen Alptraum zu einer Wirklichkeit avanciert, auf die wir unsere Kinder in den Schulen trainieren lassen. Mit den neuen Formen der Kommunikation unter Abwesenden rückt aber auch die Kommunikation unter Anwesenden ins Licht des soziologischen Interesses: der Klatsch, der eigentliche Sinn aller Messen und Kongresse.

Ich bin mir sicher: Würde sich herausstellen, daß in Frankfurt im Herbst kaum noch wichtige Geschäfte gemacht werden, die Hunderttausenden würden in Null Komma nichts einen anderen unabweisbaren Grund finden, warum einmal im Jahr alle hierher kommen und sich in den Klatsch begeben müssen. Man nimmt daran nämlich nicht teil in dem Sinne, wie man Fernsprechteilnehmer ist, man taucht darin ein, man läßt sich umhüllen, umspülen.

Der Klatsch ist, den langjährigen subversiven Bemühungen von Jörg Schröder zum Trotz, nicht einfach in andere Formen von Information umzuwandeln. Wer dies tut, wer etwa hier in diesen Zeilen ausplauderte, was beim diesjährigen Kritikerempfang im Hause des Suhrkamp- Verlegers Unseld so alles angedeutet, insinuiert und suggeriert wurde, der hätte damit zu rechnen, daß er aus dem Klatsch- Strom ausgeschieden würde und auf künftige Tauchbäder verzichten müßte. Beschränken wir uns also darauf, die Höhepunkte mitzuteilen, die womöglich ohnehin bald die Runde machen werden.

Der Witz zur Lage gelang dem Chefredakteur der Zeit, Robert Leicht, der dem FAZ-Herausgeber mit den Worten „Darf ich Ihnen einen sicheren Stuhl anbieten, Herr Schirrmacher“ – einen ebensolchen überreichte. Jener wiederum konterte, auch nicht übel: „Ach danke, ich habe einen recht festen Stand.“ Mehr noch als Schirrmacher standen die Kollegen der Berliner Zeitung im Zentrum des Interesses, was freilich rhizomatisch zusammenhängt, denn schließlich ist es die Zentrifugalkraft des FAZ-Feuilletons, die demnächst den Berliner Zeitungsmarkt auffrischen wird. Die Literaturredakteurin, leicht angeschlagen von den bohrenden Anmoderationen des Typs „Nun sagen Sie mal, bei Ihnen ist ja allerhand los...“, hatte sich angewöhnt, sibyllinisch zurückzugeben: „Ja, ja, was man so liest...“

Die Kollegen vom Tagesspiegel wiederum, die mit einer verstärkten Konkurrenz durch die Berliner Zeitung zu kämpfen haben werden, geben sich ganz entspannt: Man vertraut auf den Ruf der eigenen Solidität, den Konservatismus des Zehlendorfer Stammlesers und rechnet für den Fall, daß jener sich doch zum Wechsel verführen ließe, mit herben Verlusten der Konkurrenz unter ihren Stammlesern in Marzahn oder Hellersdorf.

Siegfried Unseld konnte stolz verkünden, daß nun, nachdem der Rechtsstreit mit dem Rotbuch Verlag zugunsten der Erben Heiner Müllers ausgegangen sei, der vier- oder fünfbändigen Müller-Ausgabe nichts mehr im Wege stehe. Bei der Party des Rowohlt Verlages wurde man darüber informiert, das es gelungen sei, Helmut Krausser von Luchterhand wegzulocken.

Diese Messe hatte eine solide Ausgangsbasis, um in Hinsicht auf ihr primäres Ziel, die Vergesellschaftung durch Klatsch, ein Erfolg zu werden, jedenfalls, was die Journalisten angeht; für den Rohstoff, aus dem die Besucher sich ihre jeweiligen Klatschrationen zubereiten konnten, war reichlich gesorgt worden. Welch ein reich gedeckter Tisch: Daß der Fortgang des Literaturchefs aus dem einen großen Leitmedium der Branche noch vor der Messe ventiliert wurde, daraus ließ sich schließen, wie weit die Zerrüttung innerhalb der Redaktion fortgeschritten sein mußte. Denn nichts ist der FAZ so verhaßt, wie unkontrolliert Gegenstand der Berichterstattung zu werden.

Das andere Leitmedium, die Zeit, hatte sich ihrerseits mit einem Beitrag von Karl Corino über Stephan Hermlin um den Nachschub mit Klatschressourcen verdient gemacht. Aber wenn nicht alles täuscht, wollte so recht keine Empörung aufkommen, mochte der Überführte auch noch so dreist an der Ausschmückung seiner Biographie gefummelt haben. Die Reaktionen bewegten sich zwischen Desinteresse und einem depressiv-tragischen Gefühl angesichts der Demontage eines weiteren Schriftstellers als Repräsentanten.

Vielleicht ist das jetzt ein richtiger Schritt: Die völlige Abwesenheit von Abrechnungseifer oder gar Genugtuung zeigt womöglich, daß man beginnt, solche Verfehlungen im Kontext des – jawohl! – Weltbürgerkriegs zu sehen: Das „Doppelleben“ des Dichters (Gottfried Benn) als eine historische Formation (was nichts entschuldigt, aber doch einiges verständlich macht). Ein östlicher Kollege, der solche moralisch-relativierenden Anschauungen mit höhnischen Kommentaren zu bedenken pflegt, konnte sich mit dieser Theorie freilich nicht abfinden. Daß die Westfeuilletons sich jahrelang so intensiv stellvertretend mit dem Doppelleben der Ostschriftsteller beschäftigt haben, sagte er, spreche doch wohl eher dafür, daß wir es mit einem universalen Tatbestand zu tun haben. Er habe da neuerdings eine präzise Theorie über die Protagonisten dieser Entlarvungskampagnen: Es habe sich um Übersprungshandlungen gehandelt...

Und so ging es in einem fort. Es war eine gute Messe, wir haben uns prächtig amüsiert.

Sonst noch was? Ach ja, die Bücher! Das wichtigste scheint heuer doch „JR“ von William Gaddis zu sein, alle sind hingerissen von einem begeisternden, monumental-monolithischen Werk, einem Klassiker zu Lebzeiten, über tausend Seiten stark. Worum es darin geht? Es ist ein Roman, der zu 90 Prozent aus Klatsch besteht, aus ununterbrochenem Gerede und Gequatsche. Jörg Lau