"Es gibt kein literarisches Leben"

■ Gedanken eines literarischen Oberkellners: Der scheidende Literaturchef der "FAZ", Gustav Seibt, über den Reiz der Macht und die Erleichterung beim Abschied von ihr, über die Kriterien der Literaturkriti

taz: Herr Seibt, Sie geben die Leitung des Literaturressorts der „FAZ“ auf, eine Stellung, der man gemeinhin große Macht oder mindestens großen Einfluß zuschreibt. Bevor Sie Ihr Amt angetreten haben, waren Sie Sachbuchredakteur, eine vergleichsweise windstille Position. Wie haben Sie seinerzeit den Wechsel in eine der zentralen Positionen des Literaturbetriebs empfunden?

Gustav Seibt: Der Faktor der Macht, der mir abstrakt bewußt gewesen ist, als ich das angefangen habe, hat mich dann in der realen Erfahrung doch ziemlich unvorbereitet getroffen, denn ich persönlich habe kein Verhältnis dazu. Es ist mir unangenehm, anderen Menschen gegenüber mit einem Machtgefälle aufzutreten. Andererseits hat es mich natürlich gereizt, das großartige Instrument, das die FAZ da in langen Jahren aufgebaut hat, zu bespielen. Und ich habe im Moment durchaus das Gefühl, vielleicht zwei Jahre zu früh aus dieser Aufgabe ausgeschieden zu sein.

Die öffentliche Stellung und der große Einfluß, den das Amt des Literaturchefs der FAZ mit sich bringen, sind allerdings nach meinem Verständnis schwer zu vereinbaren mit einer ernsthaften literaturkritischen Tätigkeit, zumindest besteht da eine sehr starke Spannung. Lesen ist eine einsame und idiosynkratische Verhaltensweise und folgt auch nicht den Gesetzen eines regelmäßigen Rhythmus und eines regelmäßigen öffentlichen Auftretens, wie es ein solches Literaturblatt verlangt.

Man kommt aufgrund der managerhaften Rolle, die man da spielt, viel zuwenig zum Lesen. Ich habe als Literaturredakteur weniger gelesen denn als Sachbuchredakteur, eine paradoxe Situation.

Die Macht, die Sie als störend für die Arbeit empfunden haben, gibt es die denn überhaupt? Kann die „FAZ“ tatsächlich viel bewirken, oder ist das nicht eher ein Phantasma?

Natürlich ist diese Macht weitgehend unwirklich, und man erfährt sie im Alltag des Schreibens und Redigierens überhaupt nicht. In der Tat, es gibt ein Phantasma der Macht des Literaturchefs, und es gibt einen realen punktuellen Einfluß in einzelnen Fällen, während alles andere der Heterogonie der Zwecke unterliegt, wie jedes Handeln im öffentlichen Raum. Man sendet ja immer nur Impulse hinein, deren Wirkung niemals genau berechnet werden können. Das Phantasma bringt es aber mit sich, daß man in gewisser Weise zu einer öffentlichen Figur wird, auch wenn man sich stark zurückzunehmen versucht.

Vom Literaturchef der „FAZ“ erwartet man aber doch kulturpolitisch kalkuliertes Agieren.

Die Äußerungen werden strategisch gelesen, auch wenn man versucht, sich nicht strategisch zu verhalten. Insofern ist es unmöglich, sich nicht strategisch zu verhalten. Urteile und Kriterien, die man aufrichtet, in der Absicht, eine Sache und ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten in den Vordergrund zu rücken, werden verstanden als Medieneffekte. So habe ich mich zum Beispiel gegen Literaturkritik als inszeniertes Caféhausgespräch gewandt und habe ernste Vorbilder dagegen ins Feld geführt. Aber ich konnte nicht dem Umstand entgehen, daß auch das wieder Teil des Medienbetriebs geworden ist in einer Logik der feinen Unterschiede und der Generationsdifferenzen. Es gibt ja die Rolle des Kritikers als Vertreter des Publikums, und es gibt die Rolle als Anwalt der Eigengesetzlichkeit der Literatur. Das war diejenige, die ich angestrebt habe, und natürlich war ich nicht so naiv zu verkennen, daß auch dies wieder eine Rolle ist.

Ihre Zeitung hat sich unter dem Literaturchef Schirrmacher, gerade in den Jahren nach der Wiedervereinigung, sehr in literaturpolitischen Auseinandersetzungen exponiert. Die Literatur wurde als moralisch-politisches Material gelesen. Ist das eine Rollenerwartung gegenüber dem „FAZ“-Literaturchef, daß er so verfährt?

Das ist schon richtig. Nun war nach 1989 diese Akzentsetzung sehr naheliegend. Das war ja eine Situation, gar nicht unvergleichbar der literarischen Situation nach 1945, wo man über Literatur nicht im Sinne eines immanent ästhetischen Fortschreitens gesprochen hat, sondern im Reflex auf eine nationale Problemlage, und dies durchaus zu Recht. Ich glaube, daß es nach 1989 völlig legitim gewesen ist, die Themen so in den Vordergund zu rücken, wie das damals Frank Schirrmacher getan hat. Es war nur nicht zu prolongieren. Ich habe allerdings die Themen, die Schirrmacher angeschlagen hat, in mancher Weise auch weitergeführt. Der wichtigste Fall in meiner Zeit war die Diskussion um Handkes Serbien-Buch. Ich habe mich da bemüht, die ästhetischen Motive hinter den politischen Aussagen herauszuarbeiten, während Frank Schirrmacher in der Polemik gegen Christa Wolf umgekehrt verfahren ist, so daß also politische Motive hinter ästhetischen Formen gesucht wurden. Beides ist, glaube ich, legitim. Bei Handke war mir die ästhetische Methode die näherliegende, einfach weil Handke als Künstler immer viel innovativer gearbeitet hat als Christa Wolf, die formal eine eher konventionelle Autorin ist.

Gleichwohl hat sich natürlich die Aufgabenstellung im Literaturressort in der Zwischenzeit wieder geändert. Man mußte zu immanent literarischen Fragen zurückkehren, jedenfalls die Dinge wieder vermittelter betrachten, als das im Ereignissturm nach 89 möglich war. Ich habe versucht, eine ganze Altersgruppe neuer Mitarbeiter für das Literaturblatt aufzubauen. Dieser Szenenwechsel war nur zu inszenieren durch Rücksicht auf Leseerfahrungen, die inzwischen in einer neuen Altersgruppe gemacht worden waren. Da sind dann auch neue Autorennamen aufgekommen aus der Gruppe der heute 40- bis 50jährigen, mit Eckhard Henscheid als Leitfossil, auch jüngere Autoren wie Burkhard Spinnen oder Max Goldt. Das sind Autoren, die einen ganz freien Umgang mit der zeitgenössischen bundesrepublikanischen Wirklichkeit pflegen, der weniger moralistisch, weniger präzeptoral ist und damit rechnet, daß wir eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit haben, die des Autors als Stellvertreter nicht mehr bedarf.

Ist diese Literatur denn eigentlich mit der Struktur, die die „FAZ“ sich selbst gegeben hat, vereinbar? Man kann ja Max Goldt nicht in solchen präzeptoralen Großaufmachern abfeiern, mit denen die „FAZ“ zur Buchmesse den Stand der Dinge durchzusagen pflegt. Hat sich nicht, anders gesprochen, diese Form der Literaturbegleitung überlebt?

Es gibt da eine Spannung. Ich glaube trotzdem, daß man das Potential des Apparates der FAZ, der ja im wesentlichen eine Schöpfung von Reich-Ranicki ist, nutzen kann, und zwar durch Ironien. Man kann ja in das großartige Gefäß Inhalte einführen, die in der Tat ein gewisses Mißverhältnis erkennen lassen, und dieses Mißverhältnis wiederum zum Vergnügen nutzen. Ich habe über Max Goldt keinen Aufmacher geschrieben, aber ich habe ihn dann einmal mitschwimmen lassen in einem Text über den Alltag in der deutschen Gegenwartsliteratur. Und dann tauchte Max Goldt da fast schon als Fluchtpunkt auf, ohne daß behauptet worden wäre, er sei nun der große Autor, der uns den großen Gegenwartsroman dieser unserer Bundesrepublik liefern oder ersetzen könnte. Ähnlich habe ich versucht, mich in der Rezension des „Weiten Feldes“ von Grass zu verhalten, indem ich im Anfang allegorisch die Literatur und die Kritik als Dialogpartnerinnen habe auftreten lassen, um damit die ganze Konstellation zu ironisieren, daß ein Großroman eines Großautors in einem Großfeuilleton von einem Großkritiker rezensiert wird. Man kann das nicht ununterbrochen machen.

In ihrer Amtszeit hatten sie vor allem durch Peter Handke, Botho Strauß und Günter Grass mit der Zumutung zu tun, Literatur, Kritik und Moral in Beziehung zu setzen. Ist das wieder wichtiger geworden, oder handelt es sich umgekehrt um Abwehrkämpfe gegen überlebte Vorstellungen vom „Schriftsteller als“ – was auch immer?

Es gibt ein Autorenverständnis, das vor allem bei Botho Strauß und Handke zu verzeichnen ist, das immer noch auf die Konzeption vom Dichter als Seher oder mindestens besserem Wahrnehmer hinausläuft. An der Aufgabe der besseren Wahrnehmung ist dabei ja in der Tat festzuhalten. Bei Grass ist es noch mal anders. Da ist es diese Repräsentantenrolle, der Wunsch, den Hermelinmantel von Thomas Mann zu übernehmen und der Nation auch in einem ganz konkreten, politisch-moralischen Sinn die Richtung zu weisen. Beides läuft aber auf eine in der Öffentlichkeit herausgehobene Stellung der Autoren hinaus, die über ihr argumentatives Potential hinausgeht, und daran habe ich natürlich nie glauben können. Mir hat diese ganze Anmaßung nicht gefallen: daß ein Autor wie Handke ohne Sprachkenntnisse, ohne vertiefte politische und historische Kenntnisse einfach hinfährt und meint, er sieht mehr als die Journalisten. Die Intention, Kritik zu üben an einer bestimmten Serbien-Berichterstattung, stört mich gar nicht, ich

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glaube nur, daß das Verhalten, eine Subjektivität gegen eine ausgearbeitete Berichterstattung zu setzen, auf Größenwahn und Paranoia hinausläuft.

Andererseits muß ich aber sagen, daß mich die Abfertigung von Botho Strauß mit politischen Argumenten immer gestört hat. Ich bin kein Anhänger seiner Programmschriften wie dem „Bocksgesang“. Trotzdem finde ich es abstoßend, zu sehen, daß neuerdings bei Theaterpremieren die Kritiker in Hundertschaften anreisen, wie Aufpasser, die auf Stellen warten, die sie dann politisch bedenklich finden können. Ich glaube nicht, daß heute aus den Äußerungen eines Botho Strauß Gefahren für die Demokratie entstehen. Das sind hysterische Befürchtungen.

Laufen die genannten Autoren vielleicht in eine Falle, die ihnen die literarische Öffentlichkeit stellt? Sind ihre ästhetisch mißglückten Texte auch Resultate eines falschen Selbstverständnisses?

Da gibt es ein bestimmtes Rollenverständnis, das dazu führt, vom Schriftsteller Dinge zu erwarten, die vielleicht von selber entstehen können, die aber nicht zu bestellen sind. Im Grunde ist das eine Rückkehr zur höfischen Auftragskunst, wenn man sagt, du bist unser Großautor, du bist unser neuer Thomas Mann, jetzt wollen wir den neuen Deutschlandroman, der die Lage der Nation resümiert. Das kann bei weniger begabten Autoren zu Problemen führen und zu einer Literatur nach dem Muster von Gustav Freytag. Der Grass ist der Gustav Freytag unserer Zeit, er schreibt Bücher wie „Soll und Haben“ oder „Die Ahnen“; das ist handwerklich alles sehr ordentlich, aber ästhetisch furchtbar langweilig. Das liegt daran, daß das Programmatische so in den Vordergrund gerückt ist, und widerspricht der Forderung, die Handke und Strauß zu Recht erheben, daß der Schriftsteller der bessere Wahrnehmer sein sollte. Daraus ergibt sich eine ganze Problemlage zwischen dem Repräsentanten, der das Programmatische betont, dem prophetischen Wahrnehmer, der alles besser weiß, und einer, wie ich glaube, tatsächlich besseren Wahrnehmung, die sich ganz frei und weich verhält und auch das Kuriose und noch gar nicht Erfaßte achtet wie Max Goldt, ohne daraus schon große Schlüsse zu ziehen. Eine Haltung also, die mit einer Art Graswurzel-Empirismus daherkommt und daher auch die interessanteren Resultate erzielen kann.

Was heißt das für das Selbstverständnis eines Kritikers und erst recht für jemanden, der wie Sie andere Kritiker steuert, indem er bestimmt, wer welches Buch bespricht?

Unsere Leitlinie in der Literaturredaktion war eigentlich immer, Luft rauszulassen. Das Grundprinzip der Kritik ist Ironie, die Begeisterung muß erst einmal durch das Säurebad der Ironie gegangen sein, und wenn sie sich dann noch hält, dann darf der Kritiker das anstimmen, was Doderer die „reinste Singstimme des Intellekts“ genannt hat, nämlich das Rühmen, was man ja viel lieber tut, auch wenn es als Textform viel schwieriger ist. Aber erst einmal muß gefragt werden, ob das alles so bedeutend ist, wie es gerne scheinen will. Und das ist natürlich wiederum in den Gesetzmäßigkeiten der Presse begründet, die ohne Ironie die größte Gefahr läuft, zur Reklame zu werden und damit wirkunsglos. Ironie ist ein Gegenmittel gegen die Gefahr, sich selbst unwirksam zu machen. Wer ironisch und unbeeindruckbar ist und sich dann doch beeindruckt zeigt, der wird eine höhere Glaubwürdigkeit haben als das Jubeln desjenigen, der grundsätzlich geneigt ist, alles wichtig, phantastisch und bedeutungsvoll zu finden. Die Ironie muß sich vor allem an den kanonisierten und im medialen Betrieb anerkannten Figuren erproben. Es hat keinen Sinn, einen Newcomer zu ironisieren. Ironie richtet sich gegen Monarchen und gegen Repräsentanten.

Gibt es innerhalb der „FAZ“ etwas, das dieser Rolle zuwiderläuft? Gibt es da nicht den Wunsch nach Feierlichkeit?

Das ist mehr eine Frage des Temperaments. Mein Vorvorgänger Reich-Ranicki hat immer das Verweigern des Kniefalls in den Vordergrund gestellt. Frank Schirrmacher neigt eher zum Pathos als ich. Das sind unterschiedliche rhetorische Einstellungen. Natürlich besteht die Gefahr, sich als Literaturchef der FAZ sehr bedeutend zu finden. Es gibt die Neigung zu einer Mechanik, die Robert Gernhardt einmal in dieses Oberkellnerbild gebracht hat, daß also die wichtigen Platten immer vom Oberkellner serviert werden müssen, von den Leitern der Literaturteile der großen Zeitungen in diesem Lande. Um so wichtiger wird die Ironie, um in der Rolle des Großkritikers nicht zu verdummen.

Was hat die Arbeit eines literarischen Oberkellners mit der Wirklichkeit des Lesens zu tun?

In meinem Fall recht wenig, weil in den letzten Jahren einfach in der deutschen Literatur nicht die Bücher herausgekommen sind, die mich persönlich sehr stark berührt hätten. Es gibt eine Ausnahme, die ich spät entdeckt habe. Das letzte Buch von W.G. Sebald hat mich tief beeindruckt. Ich weiß, daß Ihre Zeitung darüber sehr ironisch berichtet hat, und ich verstehe auch die Ironie, war aber trotzdem sehr beeindruckt. Dennoch bin ich froh, daß ich nicht selber darüber schreiben mußte, weil mich das Buch sicher an einer weichen Stelle erwischt hätte.

Finden Sie, daß die literarische Öffentlichkeit hierzulande funktioniert? Es haben ja gerade im letzten Jahr, als die Kritik in seltener Einmütigkeit den Roman von Grass verwarf, Antje Vollmer und andere zu Verschwörungstheorien gegriffen oder mindestens politischen Konformismus vermutet, der hier zur Verfolgung eines mißliebigen Autors geführt habe. Welche Rolle spielen Rücksichten auf die Meinung der anderen?

Ich glaube, das spielt eine eher geringe Rolle. Hellmuth Karasek hat ja geradezu philologisch nachgewiesen, daß die Kritiken weitgehend unabhängig voneinander entstanden sein mußten, weil sie fast gleichzeitig umbrochen worden sind. Daß das Ganze eine bewußte Abmeierung eines kritischen Autors durch eine verabredete Clique gewesen sein soll, ist völliger Unsinn. Es hat ja Gegensteuerungen in den liberalen Wochenblättern gegeben, wo dann hinten literarisch verrissen und vorne politisch gelobt wurde. Das waren gesinnungsmäßige Trostpflaster, die literaturkritisch die Sache allerdings noch verheerender aussehen ließen. Daß in einzelnen Fällen die Tonlage Grass gegenüber etwas überzogen war, sehe ich heute allerdings auch, und ich nehme mich da selber nicht aus. Das war eine Spur zu höhnisch. Von dem unglücklichen Spiegel-Titel und dem unglücklichen Verriß Reich-Ranickis im Fernsehen will ich hier gar nicht reden. Man hätte auch in diesem Fall einfach die Luft rauslassen können und es ein wenig leichter und eleganter machen können.

Hat dieses höhnische Überschießen der Kritik, von den persönlichen Feindseligkeiten mal abgesehen, systematische Gründe?

Es gibt schon ein systematisches Problem in der Konzeption von Kritik in Deutschland. Irgendwann hat sich die Kritik hier emanzipiert von ihren gelehrten Quellen. Sie hat ja als Text- und Quellenkritik und als regelpoetische Kritik begonnen. Dies war eine gelehrte Veranstaltung. Das ist sie in den romanischen Ländern und im angelsächsischen Raum auch weitgehend geblieben, was umgekehrt dazu führt, daß die Literaturwissenschaften dort viele kritische Elemente behalten haben.

Sie meinen einen Begriff wie „literary criticism“ im Gegensatz zu unserer „Literaturwissenschaft“?

Ja, oder „critica letteraria“. Im Italienischen findet man ja sogar kritische Urteile in Textkommentaren, in Fußnoten zu Dante etwa, wo Sie darauf hingewiesen werden, jetzt kommt ein besonders schöner Gesang. Unsere Entmischung von Philologie und Kritik hat zu einem sehr stark agonalen Verständnis von Literaturkritik geführt. Das hatte einen Höhepunkt schon in den zwanziger Jahren. Benjamin hat irgendwo geschrieben, wer nicht vernichten kann, kann nicht kritisieren, und das steht irgendwie immer noch hinter dem Selbstverständnis vieler Kritiker, auch in ganz machtlosen Organen. Dieses Kampfmoment gehört natürlich irgendwie dazu, aber da überlebt auch eine Seite der zwanziger Jahre bei uns, die nicht die beste Seite dieser Zeit ist. Es gibt einen berühmten Satz von Hofmannsthal an Willy Haas, den Herausgeber der Literarischen Welt: „Lieber Herr Haas, es gibt kein literarisches Leben.“ Das geht in die Handkesche Richtung der Abschottung, aber es entspricht ja auch einfach einer Wahrheit. Die großen Bücher lassen sich nicht auf saisonale Stimmungen und Bücherherbste und Autorenmatadorenkämpfe zurückführen. Dieses Verständnis von literarischem Leben hat etwas Phantasmagorisches. Es hat auch keinen Sinn, zu jammern, daß in diesem Bücherherbst nichts los ist. Und es ist Unsinn, immer gleich das Meisterwerk zu fordern. Es gibt sehr berechtigte Konfektion. Auch dies kann man in Deutschland aufgrund der Isolierung der Kritik von den anderen Formen des Lesens nur schwer anerkennen. Virginia Woolf hat in einem Aufsatz gesagt, der Kritiker müsse in der Lage sein, den Staub der Lektüre sich legen zu lassen. Mein Eindruck in den letzten Jahren war jedoch, es gab nur noch Staub. Die Kritiker wirbeln ihn auf, statt ihn sich setzen zu lassen.

Am Jahresanfang werden Sie zur „Berliner Zeitung“ wechseln, wo bereits einige ihrer Kollegen aus der „FAZ“ arbeiten. Was haben Sie dort vor?

Ich kann natürlich nicht für die Zeitung sprechen. Ich habe mir dort bewußt kein eigenes Ressort geben lassen. Ich wollte nicht Literaturredakteur werden. Ich habe ja auch vorher so viel anderes gemacht, daß ich auf diese Rolle gar nicht festgelegt bin. Ich kann dort frei eingesetzt werden für verschiedenste Feuilletoninteressen, bis zu kulturpolitischen Kommentaren. Auch Italienberichterstattung wird dazugehören. Mich reizt dieses zerwühlte und überhaupt nicht richtig beackerte Berliner Feld, wo sich in den nächsten zehn Jahren in der Presse einiges tun kann.

Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Sinn hätte, die FAZ auf Berliner Boden zu kopieren. Es gibt aber ein Modell, das in Deutschland noch gar nicht richtig erprobt worden ist, das ist die intelligente Großstadtzeitung, die sehr stark kommuniziert mit ihrer Stadt, so wie in Madrid El Pais oder in Rom La Repubblica und in Deutschland allenfalls die Süddeutsche Zeitung in München.

Das klingt nicht, als würde Ihnen der Weggang schwerfallen.

Wie schon gesagt, vielleicht kommt mein Ausscheiden etwas früh, aber ich freue mich darauf, wieder mehr ein lesender, aufnehmender und schreibender Mensch zu sein, während ich in den letzten Jahren in vieler Hinsicht auch Manager und Administrator sein mußte, was mir persönlich wenig liegt. Das lasse ich ohne Tränen hinter mir. Interview: Jörg Lau