Der Kanzler, die Shoah und die Juden

Von Bitburg bis Goldhagen: Warum aus der „geistig-moralischen Wende“ doch nichts wurde ■ Von Y. Michal Bodemann

Als Helmut Kohl Kanzler wurde, strebte er deutlich und energisch eine „geistig-moralische Wende“ in den deutsch-jüdischen Beziehungen und dem Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit an. Diese Wende sollte wegführen von der moralischen Erschütterung, die die „Holocaust“-Serie in Deutschland zuwege gebracht hatte. An einen Kniefall vor einem Mahnmal an den Genozid war bei Kohl nicht zu denken.

Ein Signal dieser Wende war Alfred Dreggers Bundestagsrede im Juli 1983 zur „Lage der Nation im geteilten Deutschland“. Sie reflektiert deutlich die damalige Stimmung unter den Konservativen und die Intentionen des neuen Kanzlers. In Dreggers Rede ging es vor allem um „deutsche Wertetraditionen“, allen voran die preußischen Tugenden, die auch durch den Nazismus nicht zerstört, sondern nur „pervertiert“ worden seien. Erst durch die Anführer der Studentenbewegung, „ein paar Intellektuelle der Frankfurter Schule“, hätten diese Tugenden ernsthaften Schaden erlitten. Dregger sprach sehr viel von Teilung, Vertreibung und der „Kriegsniederlage“; über das jüdische Schicksal kein Wort. Vor allem jedoch rief er zu einer „moralisch- sittlich-geistigen Erneuerung der Nation als Kultur- und Willensgemeinschaft“ auf, schließlich seien „Christentum und griechisch-römische Antike der Wurzelgrund der deutschen Nation“.

Im Januar 1984 reiste Kohl nach Israel. Im nachhinein wurde viel von den „Pannen“ und „Peinlichkeiten“ des Kohl-Besuchs in Israel gesprochen. Doch was wie „Pannen“ aussah, war Teil einer bewußten und sorgfältig durchdachten Kehrtwende in der Gedächtnispolitik der neuen Bonner Regierung. Kurz zuvor, am 26.August 1983, hatte der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Alois Mertes – ausgerechnet in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung – die Politik der Wende in den deutsch- israelischen und deutsch-jüdischen Beziehungen kommentiert. (Bemerkenswerterweise saß der Nichtjude Mertes damals – mit Werner Nachmann als Vorsitzendem des Zentralrats – ungenannt in der Redaktion der jüdischen Zeitung und bestimmte deren politischen Richtlinien.) In besagtem Artikel schrieb Mertes seinen jüdischen Lesern, der Bundeskanzler wolle sich aus der „geschichtlichen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel nicht wegstehlen“, andererseits gehöre er zur Nachkriegsgeneration, auf der der „Verdacht persönlicher Mitverantwortung für schuldhaftes Tun angesichts ihres Lebensalters nicht liegen kann“ – also eine direkte Vorwegnahme der Kohlschen Erklärung in Israel von der „Gnade der späten Geburt“. Da sich das deutsch-israelische Verhältnis „normalisiert“ habe, wird Israel nun an „normalen zwischenstaatlichen Maßstäben gemessen“. Denn „unsere Solidarität mit Israels Lebensinteressen entspringt nicht dem Zwang eines kollektiven Schuldkomplexes, der unaufrichtig sein müßte, sondern einer tiefen und freien Überzeugung, die unlöslich verbunden ist mit dem endgültigen Ja zur rechtsstaatlichen Demokratie im freien Nachkriegsdeutschland“. Im Subtext ging es hier freilich darum, daß sich Bonn den Rücken freizuhalten hoffte – vor allem wegen der umstrittenen Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Deshalb sollten die Beziehungen zu Israel von der Vergangenheit deutlich losgekoppelt werden. Dazu paßte auch die Äußerung des damaligen Regierungssprechers Boehnisch anläßlich des Israelbesuchs, daß Auschwitz nicht „für Zwecke der Tagespolitik instrumentalisiert“ werden dürfe. Auf dieser Linie lag schließlich auch die provokante Aufnahme des rechtsradikalen Journalisten und Altnazis Kurt Ziesel in Kohls Israel-Delegation.

Helmut Kohl ging in Israel jedoch auch in eine andere Richtung. Er betonte den „kulturellen und geistigen Beitrag“ der deutschen Juden, den „hohen Rang jüdischer Wissenschaftler“, die „gute Zeiten für die deutsche Wissenschaft und für ihren Rang in der Welt“ ermöglicht hätten – schließlich einen „Verlust, den wir gemeinsam erlitten haben“. Diese deutsch-jüdischer Symbiose und jüdische „Geistigkeit“ bildet, so Kohl, „eine Brücke zur Gegenwart, die Auschwitz überwölbt“. Daß Juden sich nicht nur durch „Geistigkeit“ hervortaten und als Ressource zur Mehrung von Deutschlands Prestige in der Welt dienten, sondern beispielsweise auch im linken und liberalen Parteienspektrum der Weimarer Republik eine Rolle spielten – davon hören wir hier kein Wort. Das war kein Zufall. Denn es ging dabei um eine Neuerfindung der Juden, so wie sie für Kohl und die Seinen assimilierbar waren.

Die internationalen Reaktionen auf Kohls Israelbesuch waren alles andere als positiv (auch wenn er Volkes Stimme in Deutschland gewiß aus dem Herzen gesprochen hatte). Trotzdem versuchte er sich ein Jahr nach der Israelreise gleich ein zweites Mal an einer Wende in der Gedächtnispolitik. 1985 besuchte er mit US-Präsident Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg. In Israel war der lebendige Altnazi Ziesel mit von der Partie, nun wurden die toten Gefallenen der Waffen-SS zusammen mit denen der Wehrmacht geehrt. Das Echo auf Bitburg fiel in Deutschland gemischt, im Ausland negativ aus.

Je intensiver Kohl als Kanzler in die internationale Politik eingewoben wurde, desto stärker begann er zu spüren, daß die Verbrechen am jüdischen Volk nicht lediglich ein Thema deutscher Geschichte waren. Der „Holocaust“ war längst zu einem bestimmenden Topos dieses Jahrhunderts in der gesamten westlichen Welt geworden. So kam seit den 70er Jahren der Impetus aller Debatten um die Shoah aus dem Ausland nach Deutschland. Umgekehrt wurde, was in Deutschland begann, schnell international debattiert (auch die Pogrome in Hoyerswerda, Mölln und anderswo): Die „Holocaust“-Serie aus den USA führte hier zu einer neuen Diskussion; Kohls Israelbesuch und Bitburg, der Historikerstreit, selbst die Jenninger-Affäre und die deutsche Golfkriegsdebatte sind ohne internationale begleitende Diskussion nicht zu denken. Wie schon die „Holocaust“-Serie führte schließlich auch das Buch Daniel Goldhagens, ebenfalls ein Import aus den USA, zu stürmischem Streit in Deutschland, zu dem sich der Pragmatiker Kohl interessanterweise ausgeschwiegen hat. Was ist nun von der geistig-moralischen Wende in Beziehung auf die Shoah und die Juden geblieben? Wie erfolgreich war Kohls „Gnade der späten Geburt“ und die „Überwölbung“ von Auschwitz? Tatsache ist, daß ausgerechnet in Kohls Regierungszeit die heftigsten Debatten um die Shoah und das deutsch-jüdische Verhältnis geführt wurden. Auch Kohls Position hat sich offenbar verändert. Wer beispielsweise seine Rede vor der jüdischen Organisation B'nai B'rith von Anfang 1996 in München liest, stellt fest, daß er einen anderen Ton als 1984 in Israel anschlägt. Gewiß fehlt dieser Rede die historische Tiefe und Eloquenz Richard von Weizsäckers. Durchaus überraschend ist indes (gerade bei Kohl) die menschliche Wärme, mit der er den damals anwesenden Shimon Peres anspricht. So kann davon, daß mit der deutschen Vereinigung die symbolische Präsenz Israels und der Juden überflüssig geworden sei, keine Rede sein.

Nur eines ist von jener Wendezeit 1983 geblieben und sogar verstärkt worden: die Betonung der historischen jüdischen Präsenz in Deutschland, ihr „großer Beitrag zur Entwicklung der deutschen Kultur“ (Kohl). Gerade dieses Bewußtsein hat wiederum wesentlich zu Kohls Förderung der jüdischen Einwanderung nach Deutschland beigetragen. Dieses Juden-als- Ressource-Denken und die Romantisierung der deutsch-jüdischen Symbiose mag uns stören – zumal einige die russisch-jüdische Einwanderung ausgerechnet nach Deutschland problematisch finden. Trotzdem, die Kurskorrektur weg von der versuchten Ausschaltung der Shoah seit der Zeit der „geistig-moralischen Wende“ war Helmut Kohls schlechteste nicht.

Y. Michal Bodemann ist Soziologieprofessor in Toronto. Im Frühjahr erschien von ihm bei Rotbuch „Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung“.