■ Mögliche Orte
: Herrschaftsfreie Zonen

Es gibt immer noch Leute, die durch den Görlitzer Park laufen und sagen, schlimm sei das, was hier passiert, weil ein herrschaftsfreier Raum vernichtet worden sei. Das sind Leute, die aus Steglitz zu Besuch kommen und noch nicht bemerkt haben, daß es im Herzen von SO 36 mittlerweile ungefähr so aufregend zugeht wie in ihrem eigenen Kiez. Auch die Kneipen schließen inzwischen ungefähr um dieselbe Zeit.

Der Görlitzer Bahnhof, nicht die U-Bahn-Station, sondern das Gelände, das heute der Park ist, war früher einmal der letzte architektonisch bedeutsame Altberliner Bahnhof, der letzte und kleinste Kopfbahnhof in Funktion. Bis 1945 versteht sich, danach war er außer Funktion und ab dem Jahre 1972 auch das nicht mehr. Nach dem Besuch einiger Abrißbirnen verwandelte sich der Görlitzer Bahnhof, vom Rest der Welt durch eine zweieinhalb Meter hohe Mauer getrennt, in ein Brachland mit einem Kies- und einem Kohlehändler, mit ein paar verbliebenen Schienensträngen, zwei nicht abgerissenen Gebäuden, viel Geröll und wenig Grün.

Ein Ort, wo noch nicht pubertierende Jungs mitten in der Stadt ungestört ihre Feuerspielchen spielen konnten, wo Jungs und Mädchen in der Pubertät sich körperlich genauer kennenlernen konnten und Mädchen nach der Pubertät manchmal allein sein mußten, um nachzudenken und Wiesenblumen zu pflücken.

Stellt man sich heute auf den Hügel, in den die große Kinderrutsche eingebaut ist (hier hat man den besten Überblick) und schaut über den Görlitzer Bahnhof, der längst Görlitzer Park heißt, sieht alles ein wenig aus wie ein zusammenfaltbares Jahreskalenderblatt der AL. Viele kleine Mikrokosmen, vom „Naturerlebnisbereich“ See über den Irr-Zier-Garten bis zu den Spiel- und Liegewiesen. Soviel schöne, bunte Vielfalt auf kleinstem Raum so harmonisch vereint, daß einem manchmal richtig schlecht werden könnte.

Das sind die Tage, wo einem der Park furchtbar auf die Nerven fällt. All diese bewußt inszenierte Falschheit findet man furchtbar unaufrichtig, diesen postmodernen Gestus, die herbeizitierten Stile, dieses intellektuell verspielte, Künstlichkeit und Natürlichkeit Verschränkende. Kurz gesagt: Man wünscht sich einen einfachen, ehrlichen Park, mit quadratischen Wiesen und geraden Wegen. Einen Park, so unmodern wie die Hasenheide.

An anderen Tagen wiederum findet man den Görlitzer Park wunderschön. Überall sind kleine und große Eingänge in der Mauer, und, schwupps, ist man in einer anderen Welt. Es ist ein bißchen wie Urlaub. Wenn man am Schreibtisch sitzt und nicht mehr weiter weiß, läuft man eine Runde und begutachtet besorgt die vielen Löcher im Rasen. Wenn man mit Leuten, die auch schon zu lange in SO 36 wohnen, auf Partys über den schlechten Zustand des Parks fachsimpelt und gemeinsam für das Wochenende Regen wünscht, damit die anstürmenden Massen nicht alles noch schlimmer machen, ist man nachher über sich selbst erschrocken.

Soviel steht fest: Der Park hat seine beste Zeit hinter sich. Nicht wegen der völligen Übernutzung und weil alles ganz schön schäbig aussieht, sondern weil er so gut wie fertiggestellt ist und es nun nichts mehr zu entdecken gibt. Keine neuen Räume, die einen überraschen und die man sich erst aneignen muß.

Der Park trägt keine Zukunft, keine Bewegung mehr in sich. Er ist jetzt, wie er ist, und sonst gar nichts. Natürlich kann man Leute beobachten gehen. Beim Wasserbecken am Eingang Oppelner Straße zum Beispiel, wo Kinder die unglaublichsten Sachen machen. Bis ihre Mütter kommen und die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Aber so wie zu der Zeit, als der Park im Entstehen war, ist es nicht mehr.

Inzwischen kauft man seine Blumen im Blumenladen, und auch zum Nachdenken sucht man sich mittlerweile andere Orte. Durch den Park geht man nur noch selten. Eher nimmt man die Görlitzer Straße, läuft an der Mauer entlang und weiß, dahinter ist ein merkwürdiges Nichts, ein Niemandsland aus Schotter und einigen kleinen, über das Gelände verstreuten Grasnarben. Der Park ist immer noch herrschaftsfrei, aber eigentlich bloß noch in Gedanken. Man kann nicht alles haben. Leider. Michaela Schlagenwerth