Jeder für sich und Gott für alle

15 Jahre nach der Privatisierung gilt Chiles Rentensystem als Modell. Aber nur wenige Alte können damit in Würde leben  ■ Aus Santiago de Chile Astrid Prange

Die Wörter „Generationenvertrag“ und „Umverteilung“ sind aus dem Wortschatz gestrichen. In Chile ist jeder für seine eigene Rente verantwortlich. Anhaltendes Wirtschaftswachstum wirkt sich nicht auf die Höhe der Bezüge aus. Die marktwirtschaftlich ausgerichtete Altersversorgung gilt als Modell für Lateinamerika. Und das neoliberale Erbe von Chiles Exdikator Augusto Pinochet (1973–1990) könnte auch in Europa angesichts von Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsrückgang und sinkenden Löhnen Schule machen.

„In Chile wurde das Solidaritätsprinzip durch die individuelle Leistung ersetzt“, erklärt Rentenexperte Jorge Mastrangelo, Statistiker bei Chiles Rentenaufsichtsbehörde AFP. Nach 40 Jahren Kleben bekomme jeder soviel heraus, was er eingezahlt habe. Der Pflichtsatz von 13 Prozent des Lohnes muß vom Arbeitnehmer alleine aufgebracht werden.

Das Geld wird von 16 privaten Anlagefirmen treuhänderisch verwaltet, die mit Zinsraten zwischen 2,8 und 7 Prozent um Kunden werben. Während die Rentabilität für die Kunden von den Schwankungen auf den nationalen und internationalen Finanzmärkten abhängt, kassieren die Fonds regelmäßig drei Prozent Kommission.

Daß das alte Rentensystem nicht mehr funktionstüchtig war, gestehen selbst die Gegner der von Exdiktator Pinochet brutal verordneten Reform ein. „Schon 1981 war die chilenische Regierung unfähig, die Renten auszubezahlen“, erinnert sich Andras Uthoff, Finanzexperte bei der UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal). Menschenrechtler Carlos Sanchez, Koordinator des Comite de la defensa del pueblo (Codepu) räumt ebenfalls die Ineffizienz des früheren Rentensystems ein, das in Chile nach Berufklassen organisiert war. Doch der politische Mißbrauch der Gelder hätte seiner Ansicht nach nicht zwangsläufig zur Privatisierung führen müssen. „Man hätte auch die Verwaltung reformieren können“, argumentiert Sanchez.

Cepal-Finanzexperte Andras Uthoff hält den Ausdruck „Privatisierung“ für übertrieben. „Das Geld der Altersversorgung wird von privaten Anlagefonds lediglich treuhänderisch verwaltet“, erklärt er. Der Staat bestimme nach wie vor, wie das Geld investiert wird. Nach den geltenden Vorschriften müssen allein 40 Prozent der Einnahmen an die chilenische Zentralbank weitergeleitet werden. Weitere 30 Prozent der Rentenbeiträge werden in Aktien von Privatfirmen angelegt, die zuvor von der Rentenaufsichtsbehörde AFP ausgewählt wurden. Der Rest dient der Finanzierung von Wohnungsbau über Einlagen bei Banken.

„Das System verhindert politischen Mißbrauch und ist unabhängig von demographischen Schwankungen“, erläutert Uthoff die Vorteile. Auf der anderen Seite schaffe die Absage an den Generationenvertrag jede Art von sozialem Ausgleich ab. „Was macht zum Beispiel eine Frau, die ihre Kinder großzieht und deshalb nicht ununterbrochen Beiträge eingezahlt hat?“ AFP-Experte Mastrangelo hat darauf eine einfache Antwort: „Nach 20 Jahren Beitragszahlung besteht ein Anrecht auf die Mindestrente von 104 Dollar.“ Für Leute, die weniger als 20 Jahre gearbeitet haben, gäbe es zwei Möglichkeiten: „Entweder sie arbeiten weiter, oder sie beantragen Sozialhilfe.“ Daß weder die Mindestrente noch die Sozialhilfe – zur Zeit etwa 76 Mark im Monat – in einem Land mit fast europäischem Preisniveau zum Überleben ausreichen, ficht den Rentenexperten nicht an. „Der Durchschnittsverdienst in Chile beträgt 500 Dollar“ (etwa 750 Mark), stellt Mastrangelo klar. Bei kontinuierlicher Beitragszahlung ergäbe dies nach 40 Jahren eine Rente in Höhe von 350 Dollar. Laut AFP-Statistik gehören knapp 900.000 Chilen der insgesamt 2,4 Millionen Beitragszahler dieser Gehaltsklasse an.

Die internationale Arbeitsorganisation OIT verfügt nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Codepu über anderes Zahlenmaterial. Nach Schätzungen der OIT werden 65 Prozent aller Chilenen auch nach 40 Jahren Beitragszahlungen nicht die Mindestrente von 104 Dollar im Monat erreichen. Die düstere Prognose wird von der AFP-Statistik bestätigt: Von den 5,3 Millionen wirtschaftlich aktiven Chilenen zahlt nur die Hälfte Beiträge ein. Mastrangelo erklärt dies mit dem „Trend zur autonomen Arbeit“ – Gegelegenheitsarbeiter sind von der Rentenpflicht ausgenommen.

„Das Verhältnis zwischen Mitgliedern und Beitragszahlern erklärt sich durch Arbeitslosigkeit, das Ausscheiden aus dem offiziellen Arbeitsmarkt sowie die mangelnde Zahlungsmoral von Angestellten“, lautet der offizielle Kommentar zur jüngsten AFP-Statistik mit Daten bis einschließlich Dezember 1995. Codepu-Koordinator Carlos Sanchez hingegen warnt vor den Konsequenzen des „neoliberalen Modells, das auf sozialer Ungerechtigkeit basiert“. Die Rentenreform kommt den Staat teuer zu stehen, meint er. Denn die Regierung sei nicht nur verpflichtet, die Differenz zur gesetzlichen Mindestrente zu zahlen, sondern müsse auch noch die Rentenansprüche aus dem alten System einlösen, die nicht vor dem Jahr 2027 nach und nach weniger würden.

„Eine radikale Rentenreform, wie sie von Pinochet 1981 dekretiert wurde, ist nur in einer Diktatur möglich“, stellt Uthoff klar. Menschenrechtler Sanchez weigert sich bis heute, die von Pinochet geschaffenen Fakten als rechtmäßig anzuerkennen: „Die Verfechter des Neoliberalismus waren unfähig, die politische Macht auf demokratischem Wege zu erobern. Also verwirklichten sie ihre Pläne mit Waffengewalt.“