Mit Kafka auf der Anklagebank

1.080 Künstler, Intellektuelle und Journalisten stehen vor dem türkischen Staatssicherheitsgericht  ■ Von Sanar Yurdatapan

Name? – Lale Mansur. Beruf? – Schauspielerin und Herausgeberin.

Name? – Bülent Tanör. Beruf? – Professor für Verfassungsrecht und Herausgeber.

Name? – Ahmet Altan. Beruf? – Journalist, Autor und Herausgeber.

Name? – Ahmet Cavusoglu. Beruf? – Geschäftsmann und Herausgeber.

Als Ende September über 50 der insgesamt 98 Intellektuellen, die wegen der Mitherausgeberschaft des Buches „Freiheit des Denkens“ nach Paragraph 8 des türkischen Anti-Terror-Gesetzes und Paragraph 312 des Strafgesetzbuches angeklagt sind, sich vor Instanbuls Staatssicherheitsgericht ausweisen mußten, konnte sich kaum jemand – ob Journalist, Beobachter oder gar die Richter selbst – ein Lächeln verkneifen.

In diesem „Prozeß der Intellektuellen“ sind es eher die Angeklagten, die das Gericht verfolgen, als umgekehrt. Konfrontiert mit insgesamt 1.080 Schriftstellern, Intellektuellen, Künstlern, Schauspielern, Musikern, Regisseuren und Redakteuren, die alle ihren Namen auf die Liste des Herausgeberkollektivs gesetzt haben, stand die Staatsanwaltschaft vor dem Problem, entweder die Augen vor diesem ungeheuerlichen Verbrechen zu verschließen oder nach dem Buchstaben des Gesetzes zu handeln und für jeden einzelnen der Angeklagten das obligatorische Strafminimum von zwanzig Monaten Haft zu beantragen. Man entschloß sich zu letzterem.

Werden die Angeklagten schuldig gesprochen und zu Haftstrafen verurteilt

– müssen mindestens zehn beliebte Fernsehsendungen ausfallen

– müssen für fünf Fernsehserien neue Stars und neue Plots gefunden werden

– verschwinden dreißig bekannte Journalisten von der öffentlichen Bildfläche, und fünfzehn populäre Kolumnen bleiben ungeschrieben

– bleiben acht Professorenstühle leer, und die Universitäten müssen für insgesamt dreißig Dozenten Ersatz schaffen

– brauchen Bühnen und Filmprojekte neue Schauspieler, Regisseure, Musiker usw.

– und wenn alle betroffenen Schriftsteller ihre Haft literarisch verarbeiten, wird die türkische Literatur um zwanzig Gefängnisromane reicher.

Vielleicht wird es doch nicht dazu kommen. Die internationale Unterstützung ist groß, unter anderem 144 Schriftsteller aus über zwanzig Ländern haben uns ihre Hilfe versprochen. Würde jeder einzelne von ihnen nach Istanbul kommen und vom Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichts als Zeuge vernommen, ginge ein Aufschrei durch die internationalen Medien – was nicht nur uns helfen würde, sondern auch allen anderen Intellektuellen, die in ihren Ländern um die Freiheit der Rede und des Denkens kämpfen.

Einer ist bereits für uns aufgetreten: Franz Kafka. Als einer der Angeklagten, der Bühnenkünstler Mahir Günsiray, als Teil seiner Verteidigungsrede einen Absatz aus Kafkas Roman „Der Prozeß“ vorlas, klagte der Staatsanwalt wütend auf Mißachtung des Gerichts. Günsirays neuer Prozeß begann am 3. Oktober.

Man braucht nicht zu betonen, daß die anderen ihn nicht im Stich ließen: Sie alle setzten ihre Unterschrift unter den Absatz, den Günsiray vor Gericht vorgetragen hatte, und legten die Liste dem Gericht vor. Wir sind glücklich und stolz, unsere Namen unter Kafkas Text gesetzt zu haben und so gemeinsam auf der Anklagebank zu stehen. Und jeder, der sich uns anschließen will, ist herzlich willkommen.

Sanar Yurdatapan ist Leiter der Initiative gegen die Kriminalisierung des Denkens in Instanbul und seit Beginn des Prozesses gegen die Intellektuellen im Juni 1995 dabei. Im Oktober dieses Jahres wurde er verhaftet und terroristischer Aktivitäten beschuldigt, weil er für einen Dokumentarfilm über Morde an kurdischen Journalisten die Musik geschrieben hatte. Nach etwa einem Monat Gefängnis kam er kürzlich wieder frei, die Klage wurde jedoch aufrechterhalten.